Einst galt das Hören mehr als das Sehen
Ein Text von Derek Turner
Das Auge hatte nicht immer Vorrang vor dem Ohr
"Am Anfang war das Wort" – doch Äonen vor diesem uralten Imperativ gab es andere lautliche Gebote, tief in uns selbst, grollend in den Schluchten der Erde und widerhallend durch das Universum. Unser Zeitalter des Auges unterschätzt das Ohr, dabei können Schallwellen uns tiefer bewegen als die eindrucksvollsten Anblicke. Selbst "Stille" ist ein Klang, den wir mit unseren eigenen Bedeutungen füllen.
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| Marguerite Humeau: The Opera of Prehistoric Creatures (Jean-Pierre Dalbéra, CC BY 2.0) |
Die heutige Technologie erlaubt ein immer präziseres Lauschen auf Geräusche, die sich früher jeder Analyse entzogen. Hochsensible Mikrofone werden in die Eingeweide der Erde eingeführt und in die lichtlosen Tiefen der Ozeane hinabgelassen, während gespannte Antennen und aufgesperrte Parabolschüsseln auf Botschaften aus dem All warten. Wissenschaftler erforschen den "singenden Sand" an Stränden und in Wüsten – jene Klagen und Pfeiflaute, die entstehen, wenn Silikatkörner bei bestimmten Frequenzen aneinander reiben – ebenso wie die rätselhaften "Brummtöne", die viele Menschen von New Mexico bis Schottland wie ein kollektives Tinnitus vernehmen wollen. Toningenieure experimentieren mit immer erfinderischeren Geräuscheffekten; Volkskundler sammeln irische Klagelieder und Lieder, die von den Rufen der Zikaden inspiriert sind; und Nostalgiker verabschieden sich von den Nebelhörnern an den Küsten, deren unendlich suggestives, vom Dunst gedämpftes Stöhnen durch GPS überflüssig geworden ist.
"Was wurde gesprochen im letzten Ruf des letzten Mammuts, der über ein Reich aus Tannen und wirbelndem Schnee hallte? Trompetete es vergebens – in Hoffnung auf eine Antwort, die niemals kommen würde?" (The Sound Atlas: A Guide to Strange Sounds Across Landscapes and Imagination, Michaela Vieser and Isaac Yuen, Reaktion, 2025)
Akustische Abwasser, dröhnender Fortschritt
Ironischerweise drohen viele dieser neu entdeckten Geräusche im Lärm des Anthropozäns zu ertrinken, während wir den Planeten mit dem dröhnenden Getöse des "Fortschritts" füllen – Bohren, Motoren, Industrie, kakophonische Kultur und geschwätzige soziale Medien. Dieses akustische Abwasser verstopft die lebenswichtigen Kommunikationskanäle der Tierwelt – die Rufe der Vögel nach ihren Partnern, die Gedächtniskarten der Wale vom Meeresgrund, die Echo-Ortungen der Fledermäuse bei der Jagd nach Motten (und die Abwehr-Klicks mancher Motten, die so ihrem Fressfeind entgehen). Selbst das Knacken und Stöhnen des Eises droht zu verstummen, während sich die wahre Kälte immer weiter zurückzieht. Auch wir selbst leiden unter dem Ansturm unseres eigenen Lärms – an Schlafmangel, kognitiver Überforderung und Bluthochdruck. Die Autoren Vieser und Yuen plädieren für eine allzu selten bedachte Form der stilleren Ökologie, in der essentielle Klänge wieder einen Sendekanal erhalten.
Die Bergnymphe Echo wurde in der alten Sage zu Stein, nachdem Narziss sie verschmäht hatte, und wiederholt seither unsere Silben in ewiger Sehnsucht. Der universale Ur-Klang ist unvorstellbar alt – statisches Rauschen aus Lichtjahren Entfernung und Milliarden Jahren Vergangenheit, unaufhörlich strömend aus Schwarzen Löchern und Supernovas. Wir kennen diese Geräusche dank der Sonifikation, dem Verfahren, bei dem Daten aus anderen Quellen (etwa Röntgenstrahlen oder Gravitationsfeldern) in Klangspuren übersetzt werden – ein ebenso künstlerisch einfallsreicher wie wissenschaftlich erhellender Prozess. Ganz im Sinne Pythagoras gibt es zwar keine eigentliche "Musik der Sphären", doch existieren Entsprechungen zwischen planetarischen Umläufen und die großen galaktischen "Tänze", die sich als Harmonien notieren lassen.
Antiker Wind um die Ohren
Das Auge hatte nicht immer Vorrang vor dem Ohr. "Geistiges Hören" galt lange mehr als "geistiges Sehen" – in mehr als einer Religion. In Europas Antike und bis ins Mittelalter wurde das Ohr als Sitz des Gedächtnisses betrachtet. In der christlichen Kunst wird der Heilige Geist manchmal als Taube dargestellt, die in das Ohr der Jungfrau fliegt. Im pharaonischen Ägypten empfing das rechte Ohr den "Atem des Lebens", das linke den "Atem des Todes". In Indien verband man die Ohren mit der Geburt (vielleicht, weil ihre spiralige Form an Vulven erinnert); der Gott Kama soll aus dem Ohr seiner Mutter hervorgegangen sein. In der chinesischen Symbolik galten verlängerte Ohrläppchen als glücksverheißend, sie standen für Autorität, Größe und Intelligenz.
Die ätherischen Klänge der Winde hatten für die Griechen große Bedeutung – von Äolus, der Odysseus den Windsack schenkte, um ihn heimzutreiben, bis zu den Zephyren, die in heiligen Hainen orakelnde Blätter rauschen ließen, von den Sirenen ganz zu schweigen. Diese Wehmut des Windes hat seither immer wieder inspiriert – in England etwa Samuel Taylor Coleridges Gedicht The Eolian Harp, das von einer "sanft schwebenden Zaubermelodie" erzählt, erzeugt vom Wind, der durch Saiten weht und sein Landhaus und seine Familie verzaubert. Er fragte sich:
"Was, wenn alle belebte Natur
Nur lebendige Harfen wären, divers gestimmt?"
Eine unerwartete Liebe zum Windgeräusch zeigte auch Thoreau, dem die neu errichtete Telefonleitung über seinem Walden-Teich Gerüchte von einem "fernen, herrlichen Leben" zu tragen schien. Dieses Bild ruft unweigerlich eine andere Probe amerikanischer Akustik wach, ein anderes einsames romantisches Horchen auf eine Leitung – Glen Campbells Wichita Lineman von 1968:
„I hear you singing in the wire / I can hear you through the whine.“Nach dem japanischen Tsunami von 2011 fanden viele Angehörige der Opfer Trost darin, in das "Windtelefon" der Stadt Ōtsuchi zu weinen – ein nicht angeschlossenes Telefon in einer Gartenkabine, das ein Landschaftsarchitekt aufgestellt hatte, um mit seinem ertrunkenen Cousin "zu sprechen".
Viele Klänge dienen materiellen Zwecken – den sorgfältig komponierten Tönen von Computern, Telefonen und Lautsprechersystemen, Fabriksirenen, der feierlichen (wenn auch letztlich vergeblichen) Muschelhorn-Fanfare in Herr der Fliegen, den Alphörnern, die Rinder von den höchsten Weiden herabrufen, Jagdhörnern, die über frostige Felder hallen, oder Dudelsäcken, die Soldaten über den Graben treiben. Doch der Mensch hat den Klang auch genutzt, um sich selbst und andere in Trance zu versetzen.
Didgeridoos bliesen den tiefen, bassschweren Traumzeit-Klang für die ersten Australier. Archäo-Akustiker haben Zusammenhänge zwischen neolithischer Höhlenkunst und der Akustik dieser Kammern entdeckt. Prähistorische Höhlen waren offenbar imaginativ transportierende Räume – aufgeladene Gebärmütter, in denen Kunst, Gesänge, Dunkelheit, Trommeln, Feuerlicht, Flöten und heilige Rituale sich verbanden, um die Hörenden in andere Regionen zu entrücken. Die mittelalterliche Musik war erfüllt von fein abgestimmten Tonalitäten – Gregorianik und Polyphonie sollten die klösterlichen Geister aus ihrem kalten Alltag emporheben; zugelassene Komponisten mieden Dissonanzen, die den Zauber brechen konnten, am berüchtigtsten das „Intervall des Teufels“ (drei Töne, die sechs Halbtöne umfassen – später berühmt eingesetzt von Black Sabbath in ihrem gleichnamigen Lied von 1970, das den Heavy Metal begründete).
Spätere Kirchenmusiker stützten sich stark auf die Orgel – eines der ältesten und mächtigsten Musikinstrumente, ein atmendes Werkzeug, das etymologisch über Aristoteles’ Organon mit dem Intellekt verbunden ist und emotional mit der heiligen Cäcilia, der Schutzpatronin der Musik. Der Übervirtuose J. S. Bach sehnte sich lebenslang nach einem erderschütternden Orgelklang, den er Erdenschwere nannte – doch er blieb weitgehend unerreichbar, weil die Metallurgie des 18. Jahrhunderts keine ausreichend großen Pfeifen erlaubte; selbst heute ist dieser Klang kaum zu hören – vielleicht zu erhaben für unsere leichtfertige Zeit.
Kirchen- und Tempelglocken riefen die Gläubigen und warnten vor Gefahren, galten aber auch als psychische Kraftfelder gegen das Böse. Im Vittala-Tempel des 14. Jahrhunderts in Hampi (Indien) erzeugen 56 Granitsäulen unterschiedliche Töne, wenn man sie anschlägt, überirdische Klänge, die sich zu komplexen Kompositionen verbinden lassen, um die Gläubigen von der Erde zu lösen und Ekstasen hervorzurufen. Selbst Shiva konnte der Musik nicht widerstehen, er tanzte zu seinem eigenen Trommeln durch Raum und Zeit, von den Sanskrit-Schriften bis zu seiner Statue vor dem CERN-Labor in der Schweiz – eine Verkörperung uralter Schwingungen, die alle Teilchen in Bewegung setzen.
Der Sound Atlas von Michaela Vieser and Isaac Yuen endet jenseits der Erde, mit der Golden Record, den audiovisuellen Schallplatten, die 1977 an Bord der Raumsonden Voyager 1 und 2 ins All geschickt wurden und noch immer von uns fortbeschleunigen. Sie tragen potenziellen außerirdischen Hörern Musik von Bach und Chuck Berry, Botschaften von Jimmy Carter und Kurt Waldheim, Grüße in 55 Sprachen sowie Aufnahmen von Wind, Regen, Walen, Hyänen, Herzschlägen und dem Lachen des Kosmologen Carl Sagan. Die Voyagers nähern sich den Grenzen unseres Sonnensystems und dem Ende ihres Daseins, doch ihre akustische Fracht könnte ewig überdauern, selbst wenn sie nie gehört wird: ein Echo unserer Seelen, ein weit hinausgeschleudertes Zeugnis für den irdischsten aller Sinne.
Quellenvermerk: Dieser Artikel basiert auf einem Text von Derek Turner, der ursprünglich in Englisch auf Engelsberg Ideas erschienen ist. Mit freundlicher Genehmigung von EI durch Gilbert Dietrich und KI ins Deutsche übertragen und sprachlich angepasst für Geist und Gegenwart.
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