9. April 2014

Die horizontalen Linien des Glücks

Agnes Martin über Einsamkeit, Stolz und die Freiheit des Geistes

Die Malerin Agnes Martin, 1912 in Kanada geboren und 2004 in New Mexiko gestorben, war eine Zurückgezogene, deren minimalistische Kunst auf die elementaren Grundmuster unserer Existenz zu verweisen scheint. Aus der lebhaften Szene in New York zog die Künstlerin des abstrakten Expressionismus in die leere Wüste im Südwesten der Vereinigten Staaten. "Die besten Dinge im Leben", so ihre Auffassung, "passieren, wenn du allein bist."

Chuck Close
Agnes (Martin) von Chuck Close, 1998. (Quelle: CC Rocor via Flickr)

So zum Beispiel nach einem Tag des Malens in den Bergen:

"Ich kam hinab in die Ebene und dachte: 'Ah, was für eine Erleichterung!' Ich dachte, dass diese Linie der Ebene nur für mich da war. Diese Weite, diese gerade, horizontale Linie. Nichts berührt mich so sehr, wie eine horizontale Linie. Ich malte diese Linie und je länger ich sie zog, desto glücklicher wurde ich. Ich dachte erst, sie sei wie das Meer, dann kam sie mir vor wie Gesang. Na ja, ich lief dann den ganzen Weg nach Hause auf dieser horizontalen Linie."

Der Kunstkritiker John Gruen, der das seltene Glück hatte, die medienscheue Künstlerin 1976 zu einem Interview zu treffen, beschrieb die Begegnung so: "Agnes Martin zu treffen, bedeutet, sich der Präsenz einer strengen und primitiven Empfindsamkeit auszusetzen - eine Präsenz, die mit einer leisen Vorahnung, einer Besorgnis daher kommt." In seinem inzwischen vergriffenen Buch The Artist Observed, hat Gruen allerhand bekannte Künstler interviewt, unter ihnen Saul Steinberg, Francis Bacon und Roy Lichtenstein. Das Interview mit Agnes Martin jedoch, gehört zu den poetischen und philosophischen Glücksmomenten und sei - so findet brain pickings - das beste Interview mit dieser Malerin überhaupt.

Ein Schlüsselwort für Martin ist: Freiheit. Als Künstlerin verstand sie sich als einen leeren Geist, ein Geist ohne Ideen, der auf die Inspiration warten muss, um etwas sichtbares zu formen. Diese Leere übersetzt sich in Freiheit, so wie Einsamkeit Freiheit und Abstand von Inanspruchnahme ist. "Wenn du mit anderen zusammen bist, ist dein Geist nicht deiner", sagt sie. Diese Freiheit übersetzt sich schließlich in Glück. Um dieses Glück zu erreichen, meint Martin, müsse man nach und nach alles ablegen und aus dem Geist das entfernen, was ihn trübt. "Und mit jeder einzelnen Preisgabe fühlen wir uns besser." Ganz besonders gelte das für den Stolz, der alles im Leben in Mitleidenschaft zieht:

"Man könnte denken, es sei einfach zu erkennen, durch was man sich verblenden lässt. Aber es ist nicht einfach. Es sind Stolz und Furcht, die den Geist trüben. Stolz blendet dich. Stolz zerstört alles, das sich auf dem Weg in dein Inneres befindet. Stolz ist absolut destruktiv. Er lässt nichts unberührt. Er sagt dir, du wärst toll, bläht dein Ego auf und findet allerlei Entschuldigungen für das, was du tust. Es dauert sehr lange, sich gegen den Stolz zu behaupten und ihn komplett abzulegen. Aber natürlich fühlen wir eine enorme neue Qualität der Freiheit und der Freude, wenn wieder ein Stück des Stolzes in uns zu Fall gebracht wurde [...] Die meisten Menschen glauben gar nicht, dass sie überhaupt Stolz und Furcht in sich haben, denn Stolz und Furcht sind eine Vorbedingung ihrer sozialen Existenz. Doch wir alle haben es. Wenn wir meinen, wir wären frei davon, dann ist das schon ein Täuschungsmanöver des Stolzes. Stolz täuscht uns auf vielfältige Weise. Er ist sehr sehr trickreich. Furcht und Stolz zu erkennen und abzulegen ist ein langwieriger Prozess auf dem Weg zur Freiheit des Geistes."

Ich selbst finde es immer wieder schwierig, mich auf einer Seite zu positionieren: Haben die strengen Entsagungskünstler wie Agnes Martin Recht oder sollten wir unser eines Leben nicht lieber genießen und alles in uns reinschlingen, solange das noch möglich ist? Ich bin mal so und mal so, aber immer imponieren mir die Menschen, die ihr Leben als Entfaltung, als Entwicklung zu etwas höherem verstehen. Man kann besser werden, besser malen, besser schreiben, besser musizieren oder einfach immer besser Leben, ein besserer Mensch werden. Man kann das Leid verringern bei sich und bei anderen, man kann mutiger werden, furchtloser und nach und nach seinen Stolz ablegen. Dazu muss man kein Mönch sein, es reicht dazu, sich selbst besser kennen zu lernen und zu verstehen, was man von seinem Leben möchte.



Interview mit Agnes Martin (1997) von Chuck Smith

"Es gibt so viele Menschen, die nicht wissen, was sie wollen. Ich glaube, in dieser Welt ist das das einzige, was du wirklich wissen musst: Was willst du genau? Das tun, zu dem man geboren wurde, das ist der Weg zum Glück."


Umfangreiche Information zu Agnes Martin finden Sie auf Artsy.

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