2. August 2015

Wie finden wir ein Leben, das für uns richtig ist?

Kleine Lektionen in individueller Lebenskunst

Wir leben in einer Zeit, die uns vieles ermöglicht, wenig definitives von uns verlangt, einiges an subtilen Druck ausübt und gerade deshalb viele von uns etwas desorientiert durchs Leben irren lässt. Was wollen wir wirklich erreichen und was wird uns über Sozialisation und Werbung als erstrebenswert verkauft? Wir entwickeln irgendwie ein Verlangen nach einem authentischen Ziel im Leben, aber oft lässt sich das nicht entdecken. Und das frustriert viele von uns. Der Philosoph Wilhelm Schmid meint nun, dass auch das ziellose "In-den-Tag-hinein-leben" eine mögliche Form der Existenz sei. Manche brauchen große Ziele, manchen helfen mittelfristige Ziele, andere wieder können ganz gut ohne Ziele leben, segeln auf Sicht und bewältigen das, was ihnen gerade begegnet. Es gibt also kein Rezept für jeden, kein Ziel für jeden. Wir müssen durch Selbsterkenntnis verstehen lernen, was uns antreibt. Wenn es gelingt, kann man das Lebenskunst nennen.

"Anders als viele Menschen glauben, ist die Lebenskunst nicht auf ein bestimmtes Leben festgelegt, sondern besteht darin, sich selbst darüber klar zu werden, was für einen selber das erfüllte Leben sein kann. Und das kann sehr unterschiedlich sein!" (Schmid, Philosophie Magazin Nr. 05/2015, S. 64)

Man muss diesen Gedanken sogar noch erweitern, indem man feststellt, dass es auch für einen selbst nicht nur eine Möglichkeit eines erfüllten Lebens gibt, sondern eine Reihe von Alternativen. Der Mensch ist das nicht festgestellte Tier, das offene Wesen, das sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann und dabei eine Auswahl unter verschiedenen Möglichkeiten treffen muss.

Wie leben wir eine Philosophie der Möglichkeiten?

Schmid meint, dass die Lebenskunst zu einem großen Teil darin bestehe, Optionen wahrzunehmen. Einer verwirklichten Lebenskunst entgegen stünde jedoch, sich unhinterfragt den zahlreichen Normen unterzuordnen oder sich selbst Normen aufzustellen. Achten wir einmal darauf, wie oft wir um uns herum (oder in uns selbst) hören, man sollte das nicht machen, jenes aber gehört sich so und so, das nun sei unvernünftig etc. Solch ein Denken in Normen schränkt die Wahrnehmung unserer Möglichkeiten ein und vereitelt uns somit ein erfülltes Leben.

"Wesentlich ist, verschiedene Möglichkeiten abzutasten und darauf zu achten, was ich dabei spüre. Wo spüre ich eine größere Intensität als bei einer anderen Möglichkeit? Das könnte ein entscheidendes Kriterium sein." (Schmid, Philosophie Magazin Nr. 05/2015, S. 65)

Interessant ist in diesem Zusammenhang die spirituelle Doktrin vom Leben im Augenblick. Sicher ist es wichtig, auch im Augenblick zu leben und bewusst wahrzunehmen, was ist. Um sich ein Bild von den Möglichkeiten zu machen, muss man jedoch sowohl in die Vergangenheit schauen, um zu sehen, was sich als gut erwiesen hat oder worin wir Freude und Qualität finden konnten, als auch in die Zukunft denken, denn Möglichkeiten sind jeweils Zukunfstversionen unseres Lebens, die ein Tor zur Gegenwart haben. Ein Leben - so sagt Schmid - wird immer in Horizonten gelebt, die mehr sind als, das was wir im Moment erfahren:

"Insofern tun wir gut daran, die Augen absolut offen zu halten für alles, was auf das eigene Leben Einfluss nehmen könnte. Vor allem der enge Austausch mit Freunden, mit Menschen, die in anderen Kontexten leben, die andere Berufe ausüben und in der Regel andere Erfahrungen machen, mindern das Risiko, den eigenen Blick zu sehr zu verengen." (Schmid, Philosophie Magazin Nr. 05/2015, S. 62)

Schmid nennt dieses Hin-und-her-Gehen zwischen Gegenwart und Zukunft das Atmen des Lebens. Allein dadurch ergibt sich natürlich noch keine Wahl. Optionen gibt es viele, wenn wir offen für Neues bleiben. Und gerade dadurch ergibt sich möglicherweise das Problem der Überforderung durch zu viele Möglichkeiten, sodass wir am Ende gar nichts wählen. Was können Anhaltspunkte für eine gelungene Wahl sein? Oft wählen wir aufgrund vorher (mehr oder weniger intelligent) getroffener Entscheidungen, also zum Beispiel auf Basis unserer Ausbildung, sie weist uns oft in eine bestimmte Richtung (außer wenn man so etwas wie Philosophie studiert hat). Was aber, wenn wir nicht weiter verfolgen wollen, was eine jüngere Version unserer selbst einmal angefangen hat? Es gibt viele weitere Anhaltspunkte, besonders sollten wir vielleicht darauf hören, was uns Energie gibt, ja was wir selber schön finden. Schmid weitet diesen Gedanken rund um die Lebenskunst noch aus und besteht darauf, dass das Leben nur durch die Energie, die uns das Schöne gibt, gemeistert werden kann:

"Das Leben und das Beziehungsleben stellt dermaßen große Schwierigkeiten, dass diese nur mit einer starken Energie überwunden und bewältigt werden können. Insofern täten Menschen gut daran, sich immer wieder zu fragen: Wo sind meine Energiequellen? Und Paare: Wo sind unsere Energiequellen? Sollte es keine geben, wäre es klug, auf die Suche zu gehen, herumzuspüren, auszuprobieren. In meinen Gesprächen mit anderen Menschen habe ich immer zuerst gefragt: Was ist schön für Sie? Denn mit dem Begriff des Schönen kommen wir auf die Spur dieser Quellen." (Schmid, Philosophie Magazin Nr. 05/2015, S. 63)

Ich selber erlebe das ebenfalls als Herausforderung an mir und auch in der Beziehung: Es ist dann sogar so, dass ich meine, nicht genug Energie zu haben, jetzt auch noch "etwas Schönes" zu machen oder gar danach zu suchen. Dann lieber Energie sparen und zu Hause auf der Couch bleiben? In Beziehungen kommt man sogar in Teufelskreise, wenn man nichts "Schönes" mehr macht, weil man selbst oder der andere gerade schwierig ist oder Probleme auf der Arbeit hat. Durch diesen Verzicht aufs Schöne, wird dann alles noch schwieriger, man macht sich gegenseitig Vorwürfe und findet den anderen im besten Fall langweilig. Ich glaube, ich verstehe jetzt, dass anders herum ein Schuh draus wird: Mach etwas Schönes, damit du genügend Energie hast, alleine oder in der Beziehung.

Ich bin überzeugt von einer Lebensphilosophie der Möglichkeiten und davon, dass jeder sich soweit kennen lernen muss, selbst entscheiden zu können, ob er oder sie Ziele im Leben benötigt oder sich eher dem Strom dessen, was passiert, hingeben sollte. Unabhängig von diesen Eigenarten, kann man von Schmids Lebenskunst fürs eigene oder gemeinsame Leben mindesten diesen Ratschlag beherzigen:

"Geh ins Offene! Du wirst etwas finden und entdecken, was du jetzt einfach nicht sehen kannst. Ganz einfach, weil du noch nicht im Offenen bist." (ebd.)



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5 Kommentare:

  1. Geh ins Offene! Sehr gut, wenn man dann entdecken dürfte, dass diese so offene Gesellschaft gar nicht so gleichförmig ist, wie man denkt. Oder, dass man nicht denkt, ich sehe nur irgendwie verstörte Leute oder in sich gekehrte oder aufgedrehte Leute auf der Straße, gut wenn ich mir zu Hause wieder meine eigenen Gedanken und Worte und Themen machen kann, die ich öffentlich auf der Straße mich nicht traue zu äußern, weil ich es einfach nicht kann. Ich bin zu eingebildet dafür oder zu anspruchsvoll oder auch viel zu anstrengend. Aber vertrauen ist wichtig, sonst verbaut man sich die Chancen. Und Ungeduld ist auch nichts. Man muss locker sein und vertrauen in diese schöne Gesellschaft auf der Straße oder sonstigen Treffen mit Familie, Freunden, Bekannten. Der Schlusssatz ist wahr. Ich denke auch. dass ohne Öffnung Abgrenzung und Misstrauen ins Leben schleicht. Abgrenzung ist ja auch Selbstschutz vor Naivität oder Irrtümern, die vermieden werden müssen. Jeder macht da unterschiedliche Erfahrungen mit Konkurrenten, die vielleicht gar nicht immer so nett sind, ständiges messen. vergleichen und Klatsch und Tratsch. Man darf da auf keinen Fall empfindlich sein. Das ist schädlich für die Offenheit. Dass man sich aber auch nicht sagt: Ach was, diese Leute, die zu mir einfach nicht passen. Ja, es ist eingebildet, so zu denken. Aber es kann auch nur eine Phase sein, wenn sie vorübergehend ist, dann auch gut, wenn man schöne Interessen für sich selbst hat. Oft denke ich, dass es schwer ist, dieses Maß zu finden. Kein Zwang, wo mitzumachen oder Interessen folgen zu MÜSSEN, weil man es gesellschaftlich schuldet, aber dennoch dann Interessen zu haben, mit denen die Leute ganz offen was anfangen können. Nicht, dass da eine Front entsteht oder Aufdringlichkeit. Diese Polarisierungen zu managen, schöne Aufgabe. Wer das kann, der ist ein glücklicher Mensch. Und Schönheit ist für mich Frohsinn, Lachen, schöne Landschaften oder Städte. Ich habe ein Problem mit Schönheit, aber das ist nicht angebracht, weil ich zum Beispiel mich frage, was den Menschen so alles gefällt. Mal ganz vorsichtig gesagt, wenn was zerplatzt oder hässliche Bilder in Umlauf bringen. Gibt ja auch Fernsehsendungen mit Kakerlaken essen. Ich glaube das lief mal im Dschungelcamp oder so ähnlich. Oder sich amüsieren über zerstörte Lebensläufe. Ich will niemand belästigen, aber ich könnte noch weitere Beispiele aufzählen. Oder dann wiederum das total aufgemotzte bei Frauen und inzwischen auch Männern. Superqueen und Superman immer und überall. Aber da bin ich viel toleranter, denn da merke ich schon schnell, wenn es nur aus Sensationslust ist. Aber diese heimlich schadenfrohen Leute, wissen die eigentlich wirklich, was schön ist oder wollen sie nicht eher aus irgend einer Lust heraus alles gute und schöne in den Dreck ziehen. Gut- und Schönmenschen Bashing vielleicht?

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  2. Mach etwas Schönes, damit du genügend Energie hast, alleine oder in der Beziehung.

    danke - damit ist mein wochenende gerettet :-)

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  3. Ja also, wenn ich so meinen diesen älteren Kommentar lese? Nun, das hätte ich besser für mich behalten. Was ist schon mein Text gegen diesen Beitrag? Deswegen habe ich mir den Beitrag soeben ausgedruckt und mein alter Post vom 9. Juli 2016? Manchmal höre ich schon die Flöhe husten.

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    1. Alles hat zu seiner Zeit eine Berechtigung, egal ob die Flöhe in Zukunft husten.

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