28. April 2024

Trost der Justitz und Perversion der Justiz

Parallelen von Recht und Philosophie

Eine Welt, in der man sich nicht mehr auf Tatsachen und Fakten einigen kann, weil man die Wahrheit lieber seinen Überzeugungen unterordnet, als seine Überzeugungen der Wahrheit unter zu ordnen, ängstigt mich. In so einer Welt gewinnt der Stärkere, der mit dem lautesten Megaphon, der mit den brutalsten Drohungen und nicht der, der im Recht ist.

Auch deswegen liebe ich die Rechtssprechung und kann mir tagelang das Hin-und-her von Argumentationen zwischen Rechtsanwälten, Staatsanwälten und Richtern anhören. Es hat eine beruhigende Wirkung auf mich, so als wenn ich dabei zur Gewissheit komme, dass die Welt doch noch irgendwie im Lot sei. Denn hier zählen Tatsachen! Mit bloßer Überzeugung, Bauchgefühl und Wunschdenken kommt man vor einem unparteiischen Gericht nicht weit. Man braucht überzeugende und allgemeingültige Argumente, um einen Prozess vor Gesetz zu gewinnen. 

Und das Schönste ist, man kann sogar unterschiedlicher Meinung sein und sich trotzdem zivilisiert darüber austauschen. Rechtssprechung ist wie angewandte Philosophie, denn es geht um whare Prämissen, um Logik und Kohärenz von Argumenten, es geht um Beweise und eine präzise Sprache. Besonders beeindruckt mich immer die hypothetische Frage nach dem allgmeinen Prinzip – dieses Werkzeug wird in Philosophie und Recht gleichermaßen genutzt, um Thesen oder Argumente zu prüfen. 

Moralische Imperative von Sadomasochisten

Vor Gericht nutzt man hypothetische Fragen, um eine Annahme oder ein rechtliches Argument in seinem Extrem auf die Spitze zu treiben und damit zu testen. Zum Beispiel könnte eine Richterin einen Anwalt, der eine absolute Immunität für einen Präsidenten fordert, folgende extreme Frage zum Test seiner Forderung stellen:

"Könnte ein Präsident dann einfach seinen politischen Gegener umbringen lassen, ohne eine strafrechtliche Verfolgung zu riskieren?" Der Mann auf dem Weg ins Gefängnis oder ins Weiße Haus

Hier fällt es jetzt selbst dem schwer, der diese Immunität gerne hätte, mit "ja" zu antworten, denn auch er könnte ja auf der anderen Seite als politischer Gegner eines Präsidenten sitzen. Und dann will er eben nicht, dass dieser andere Präsident ihn einfach umbringen lassen könnte. Es braucht also die Androhung von Strafverfolgung, um vor solchen opportunistische Straftaten eines Machthabers sicher sein zu können. Dann vielleicht doch lieber keine absolute Immunität?

Hier klingt ganz offenbar der Kant'sche kategorische Imperativ der Moral durch: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Der Volksmund macht daraus: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!"

Auch diesen Imperativ können wir hypothetisch testen, also in seine Extreme führen. Ein beliebter Test dieser goldenen Regel der Moral ist: Was ist, wenn ich masochistisch bin und es mir gefällt, dass andere mir Schmerz zufügen? Darf ich dann den anderen auch Schmerz zufügen, weil ich mir durchaus wünsche, dass es ein allgemeines Gesetz werde, dass wir uns gegenseitig Schmerzen zufügen? Das zeigt schon, wie auf den ersten Blick angreifbar solche Maximen sind. 

Wenn man den Test jetzt wirklich ernst meint, dann geht man ins Detail und fragt weiter: Um welchen Schmerz geht es dir? In welchen Situationen gefällt dir das und in welchen nicht? Willst du tatsächlich immer in Schmerzen leben oder immer der Gefahr ausgesetzt sein, dass man dir willkürlich und ohne dein Einverständnis Schmerz zufügt etc. Und schon wird die Maxime genauer, z.B.: Man darf niemandem einfach Schmerzen zufügen, es sei denn, diese Person selbst hat darum gebeten.

Eine Welt, eine Gemeinschaft, in der man sich über seine gegenseitigen Forderungen so intellektuell redlich austauschen und sie verhandeln kann, scheint mir ein Idealzustand zu sein, den ich mir wünsche. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum es mich beruhigt, die unabhängige Justiz in der Ausübung ihrer Funktion zu beobachten. Die Justiz ist es oft, die zwischen uns und einer Welt in Willkür, Gewalt und Chaos steht. 

Der US Supreme Court und die Immunität Donald Trumps

Eine Welt in Willkür, Gewalt und Chaos ist zum Beispiel das, was droht, wenn Demokratien zu Autokratien werden und die darin Herrschenden vielleicht einfach politische Gegner umbringen lassen oder die Unabhängigkeit der Justiz beschneiden können. Um das zu verhindern, haben demokratische Staaten politisch unabhängige Verfassungsgerichte. So heißt es zur Aufgabe des bundesdeutschen Verfassungsgerichts:

"Das Bundesverfassungsgericht wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes. Im Streitfall legt es letztverbindlich die Verfassung aus. Es bestimmt damit Zuständigkeiten und Grenzen für das Handeln des Staates."
(Bundesministerium der Justiz)

Ähnlich ist es in den USA, auch wenn die jeweiligen Mechanismen der Berufung, Zusammensetzung und Ausübung der richterlichen Arbeit von Staat zu Staat variieren.

Wie ich bereits in Der Mann auf dem Weg ins Gefängnis oder ins Weiße Haus schrieb, befasst sich der Supreme Court derzeit mit der Frage, ob ein Präsident umfassende Immunität während seiner Präsidentschaft besitzt, selbst wenn seine Handlungen privater Natur waren und nicht in den Aufgabenbereich eines Präsidenten fallen. Ich sagte damals, dass die Frage im Grunde nicht spannend sei, sondern sehr binär und wenn man sie hypothetisch testet (siehe Töten des politischen Gegners) nur zu einer Antwort kommen kann, nämlich dass das nicht sein kann.

Ich sagte aber auch, dass Trump den Fall nur deshalb dem Supreme Court gegeben hat, um Zeit zu schinden, denn er muss um alles in der Welt verhindern, dass ein staatliches Urteil in dieser Sache noch vor seiner möglichen nächsten Amtszeit zustande kommt.

Eigentlich stimmt beides (inhaltlich uninteressant, aber formal für Trump wichtig) und nun hat es der Supreme Court doch geschafft, die Frage viel spannender aussehen zu lassen, als viele es für möglich gehalten hatten. Kurz gesagt lehnt das Gericht – nach allem, was bisher zu hören war, die Entscheidung steht aber noch aus – die Auffassung ab, dass ein Ex-Präsident für "private" Verbrechen, die er in seiner Amtszeit begangen hat, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könne. So weit, so erwartbar. Es hat also sein Augenmerk offenbar auf die Unterscheidung zwischen "privat" und "professionell" gelegt. Dinge, die wie Straftaten aussehen, aber in Ausübung des Amtes geschehen sind, wären demnach nicht strafrechtlich verfolgbar, als Beispiel dient hier Obamas Drohneneinsatz, der u.a. zum Tode eines US-Amerikaners im Ausland geführt hat. Verbrechen, die ein Präsident aber z.B. als Kandidat für das Präsidentenamt verübt hat, die sind dann gewissermaßen privat, weil nicht in Ausübung des Amtes als Präsident. 

Diese Unterscheidung sei so wichtig, weil es sonst nach einer Amtszeit eines Präsidenten immer zu Anklagen käme. Interessanterweise hat das mehrheitlich konservativ besetzte Gericht scheinbar mehr Angst davor, dass ein Präsident wegen eines vermeintlichen Verbrechens angeklagt werden könnte, als davor, dass ein Präsident tatsächlich ein Verbrechen begeht. Das finde ich vor dem Hintergrund Donald Trumps offensichtlicher Kriminalität einen schrägen Schwerpunkt, aber ok – man kann das diskutieren.

In der Diskussion hat Trumps Anwalt dann auch tatsächlich zugestanden, dass einige der Taten, die Trump von der Anklage zur Last gelegt werden, tatsächlich keine "offiziellen Akte", sondern privater Natur waren. Damit ist also auch klar, dass selbst dann ein Verfahren gegen ihn eröffnet werden kann, wenn es eine gewisse, aber keine allumfassende, absolute Immunität gibt. Nur war diese Auffassung auch vorher nicht besonders fragwürdig und man muss den Supreme Court vielleicht auch fragen, warum sie sich so sehr um unnötige Anklagen sorgen, wenn es das vor Trump noch nie gegeben hat. Es scheint also keine reale Gefahr zu sein, während die Ermutigung, mit absoluter Immunität im Rücken Straftaten zu begehen, ja offenbar eine sehr reale Gefahr ist, denn genau das wird Trump vorgeworfen. Auf der anderen Seite kann höchstrichterliche Klarheit über Immunität auch Donald Trump davon abhalten, Biden zum Beispiel wegen "mangelndem Grenzschutz" oder ähnlicher angebliche Versäumnisse anzuklagen, sollte Trump doch noch einmal ins Amt einziehen.

Warum also das Ganze, wenn es eigentlich nicht viel Neues bringt? Am wahrscheinlichsten ist, dass der Supreme Court nun den Fall zurück an das untere Berufungsgericht geben wird, mit dem Auftrag erst einmal zu klären, welche Handlungen offizieler und welche privater Natur sind. Vorher – so die offenbare Auffassung – kann nicht geklärt werden, wofür Trunmp angeklagt werden kann und wofür nicht. All das wird so viel Zeit kosten, dass Trumps Rechnung aufgeht, in dieser Sache nicht als verurteilter Straftäter und Vefassungsbrecher zur Wahl zu stehen. Er wird all das nutzen zu sagen: Seht ihr, sogar das Verfassungsgericht gibt mir Recht. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt.

Pervertierte Institutionen?

Man kann hier also sehen, wie solche Verfahren auch so in die Länge gezogen werden können, sodass es nicht mehr zu einer sinnvollen Anklage kommen kann. Denn sinnvoll wäre diese spezielle Anklage, Beweisführung und Verteidigung, um Wähler vor einem Verfassungsbrecher und Möchtegernautokraten zu warnen, der sich zur Wahl stellt.

Kritiker sagen, der Supreme Court hätte den Fall entweder einfach wegen Präzedenz ablehen können oder ihn zwar annehmen können, aber ohne deshalb das Verfahren gegen Trump zu stoppen. Statt dessen hat das Gericht alles getan, sogar die Anhörung zu dem Fall auf das letztmögliche Datum gelegt, um Trump den Gefallen einer möglichst späten Anklage zu tun.

Pervertiert hier die Justiz das Recht? Dafür spricht, dass tatsächlich sechs der neun Richter durch republikanische Präsidenten und drei sogar von Trump selbst ernannt wurden. In den USA ist es ein offenes Geheimnis, dass die Richter alles andere als unpolitisch sind, selbst persönliche sehr enge Beziehungen zu einflussreichen erzkonservativen Geldgebern von beispielsweise Richter Clarence Thomas sind bekannt geworden, ohne dass das etwa sichtbare Scham ausgelöst oder Rücktritte zur Folge gehabt hätte.

Auf der anderen Seite scheinen die Urteile dieses rechten Supreme Courts rund um Abtreibungsrecht und ähnliche soziale Themen zwar enorm konservativ bis restaurativ zu sein, allerdings haben wir auch schon Urteile zu Donald Trump (z.B. zur Herausgabe seiner Steuererklärung) gesehen, die ihm keinen Gefallen getan haben.

Das Gericht läuft hier also auf dem schmalen Grat, keine persönlichen Vorteile zu gewähren, aber strukturell und organisatorisch alles dafür zu tun, dass es doch wieder zu einem republikanischen Präsidenten kommt, selbst wenn sein Name Donald Trump heißen sollte. Das ist übrigens genau die Linie, der die meisten anderen Konservativen in den USA auch folgen: Sie wählen Republikanisch, egal wer der Kandidat ist. Sie hoffen, dass Donald Trump schon nicht genau so regieren wird, wie er es ankündigt: autokratisch, rachsüchtig, isolationistisch und nationalistisch. Ganz tief in sich spüren sie, dass ihre Hoffnungen auf Sand gebaut sind (siehe als Beispiel das Interview mit Trumps ehemaligen Justizminister Bill Barr).

Auch Institutionen wie höchste Gerichte setzen sich letztlich also aus Menschen zusammen, die eigene Geschichten, Wünsche und Interessen haben. Es sind Menschen, die gelernt haben, in der Ausübung ihres Berufes, diese privaten Motivationen hinten anzustellen und sich lediglich auf den oben geschilderten professionellen Grundlagen von Beweisführung, belegbaren Prämissen, Logik und Kohärenz und einer präzisen Sprache mit ihren Entscheidungen zu bewegen. Wir müssen ihnen vertrauen und gleichzeitig alles dafür tun, dass diese Institutionen mit richtig qualifizierten Menschen besetzt sind, denen die Arbeitsgrundlagen und Leitbahnen ein möglichst unabhängiges und an der Sache orientiertes Wirken ermöglichen. Am Wichtigsten scheint mir aber, dass wir den Wert solcher Institutionen verstehen, die uns davor schützen, mit dem Recht des Stärkeren und der Argumentation aus dem Bauch heraus wieder zurück in die Barbarei zu fallen.


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