18. Juli 2025

Über Moderne, Mythos und Maschinen

Was vom Menschen übrig bleibt – Fortschritt, Krise und Selbstverlust

In Zeiten radikalen Wandels – technologisch, ökologisch, existenziell – stellt sich eine alte philosophische Frage mit neuer Dringlichkeit: Was heißt es heute, Mensch zu sein? Dieser Text ist eine intime Reflexion über Fortschritt, Grenzen, das Dazwischen und das Unverfügbare – über das, was uns zu Menschen macht, gerade in dem Moment, in dem wir es aus der Hand geben.

Die englische Originalversion des Textes wurde am 17. 7. 2025 in Xavier Faltots Radioshow Cashmere Talks Zuper Wok #00: Escaping the Black Hole gelesen. 

Mann über Bord!

Mein Freund nennt mich immer wieder einen Modernisten. Er hat recht … nicht im Hinblick auf das, was ich anstrebe, sondern in dem, was ich mit mir bringe. Und nein, ich glaube nicht, dass wir die Moderne einfach hinter uns lassen werden. So wie wir uns auch nie wirklich der Antike entledigt haben – oder der Steinzeit. Reptilien ziehen die Strippen in unseren Gehirnen.

Die Wellen, das Licht, die Gletscher, die Teilchen, die Stürme, die Liebe, die Worte – diese Rhythmen stammen nicht von uns. Wir sind das, was durch die Ritzen dieser ewig mahlenden Rhythmen hindurchfällt. Wir tanzen wie Sägespäne zu Boden. Und auf dem Weg nach unten reimen wir uns auf diese Rhythmen. Ist das nicht sublim? 

"Erkenne dich selbst!", forderte das Orakel – und meinte damit nicht, uns vollständig zu begreifen, sondern das Gegenteil: Erkenne deine Grenzen! Schau auf deine Haut. Und mal ehrlich: Das war noch nie unsere Stärke. Was schade ist – denn genau dort, an unseren Grenzen, auf unserer Haut, geschieht die ganze Magie.

Wir sind die Nachfolgenden. Und wir müssen die Einschreibungen dort, wo unsere menschliche Hard- und Software zu einem Gewebe verschmilzt, permanent hinterfragen. Die Zeichen der Zeit sind für immer auf unsere Zungen tätowiert. Frage deine Zunge! Sieh sie dir an! Du wirst sehen: Sie ist gespalten wie die Zunge einer Schlange. Du kannst die neue Wahrheit nicht mit den alten Worten sprechen. Und vielleicht brauchst du auch neue Augen.

Unsere moderne Blackbox der Gewissheit verwandelt sich in ein schwarzes Loch. Der Fortschritt kollabiert in sich selbst – in ein Paradox, wie mein Freund sagt.

Wir sind schon immer auf diesem Kurs gewesen, seit Prometheus. Nur jetzt beginnt alles zu rutschen – wie Gletscher auf Speed. Der Dichter-Philosoph hatte Unrecht: Der feurige Fortschritt führt am Ende nicht nur zu Freiheit und Handlungsmacht. Er ist auch eine Form der Flucht. Der Fortschritt in Form des künstlich erzeugten Feuers ist ein Versuch, den Vormarsch des Chaos, des Kronos, des Todes hinauszuzögern.

Ein deutliches Merkmal davon sind die immer größer werdenden Zähne des Risikos. Denn unser Deal lautet bisher: Jedes Monster, das wir besiegen, gebiert ein noch größeres, das es zu besiegen gilt. Und wenn du dich umdrehst, wirst du sehen, wie ein Wirbelwind aus einer Million Medusen ein schwarzes Loch formt. Unsere Zukunft frisst uns – aus der Vergangenheit heraus. "Mensch über Bord!" Lass uns noch einmal zurückrudern.

Was ist der neue Deal? Wie entkommen wir diesem schwarzen Loch? Das ist die Milliarden-Dollar-Frage – wie ein echter Modernist sagen würde.

Jede transformative Krise der Menschheit ist ein guter, vielleicht sogar notwendiger Anlass, neue Formen des Zusammenlebens zu entwickeln. Revolution? Evolution? Du willst die Welt verändern? Dann lass die Welt dich verändern!

An Transformationsprozessen und Krisen mangelt es derzeit nicht – weder an objektiven (wie Gletscher auf Speed) noch an subjektiven. Die subjektive Krise spiegelt sich vor allem in der Frage, was es heute heißt, Mensch zu sein.

Was ist Menschlichkeit, wenn Kognition, Kreativität und Geselligkeit an Maschinen ausgelagert werden? Es ist wirklich das Außergewöhnlichste, was wir gerade tun: Als ob die Menschheit die Augen schlösse – müde, sie selbst zu sein, müde des Fühlens, müde der Erfahrung. Müde der Liebe? Wir lagern das, was es heißt, Mensch zu sein, an Maschinen aus, die dann mit dem Menschen austauschbar werden. Wirklich, das ändert einfach alles.

Wenn wir uns wandeln und den Verlust der Wahrheit überleben können, dass nur echte Menschen wahrhaft menschlich sein können – dann stellt sich die Frage: Was wird unser neues Ritual sein? Was unser neuer, konstituierender Mythos? Was werden Menschen praktizieren, um einander Verwandtschaft und Solidarität zu versichern? Welche Geschichten wollen wir über uns selbst reimen? Pi zu kennen, Quanten und Quarks zu berechnen oder unsere DNA zu entschlüsseln – das allein reicht gewiss nicht aus.


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