23. Dezember 2025

Schopenhauers gute Gemeinschaft

Gemeinschaft ist kein Sinnträger, sondern Nebenprodukt moralischer Erkenntnis

Arthur Schopenhauer. Fotografie von Johann Schäfer (1855, Ausschnitt, gemeinfrei)

Die Einwanderer fressen eure Haustiere!

Im Artikel Warum wir Grausamkeit wählen, haben wir gesehen, dass in vielen Menschen ein Bedürfnis nach autoritären Strukturen entsteht, sobald sie mit unklaren Ängsten konfrontiert sind. Und wir haben analysiert, wie sich gesellschaftliche Akteure wie die AFD oder die MAGA Bewegung in den USA diese Psychologie zunutze machen. Unklare Zukunftsängste werden oft unter Rückgriff auf die Fremden, die Anderen geschürt. Das ist natürlich billig und nutzt die mangelnde Bildung und die Heimatliebe der Bevölkerung aus. So war das schon immer – die eigene Gruppe schweißt sich zusammen und die Anderen werden werden dämonisiert. Daher sind auch die gegenwärtigen politischen und kulturellen Spannungen von kollektiven Affekten wie Nationalstolz, identitäre Loyalitäten oder dem Ruf nach Ordnung und Autorität geprägt.

Die These im Artikel war, dass es eine Kränkung vieler vormals Privilegierter gäbe, denen plötzlich auffällt, dass andere, vormals unsichtbare Menschen (Frauen, Zugezogene, Wessis, Migranten, Transsexuelle) ihnen gleichgestellt sind und ggf. sogar ihnen gegenüber privilegiert sind. Ihnen ist damit gewissermaßen die Selbstverständlichkeit genommen worden, auf sich, die eigenen Eltern oder Kinder stolz sein zu können. Statusangst und Unterlegenheitsgefühle kommen auf und die müssen möglichst korrigiert werden. Ein Leser wies in diesem Zusammenhang auf Arthur Schopenhauers Kritik des Nationalstolzes hin.

Schopenhauer und der Nationalstolz

Schopenhauer analysiert den Nationalstolz in den Parerga und Paralipomena nicht als harmlose Identifikation, sondern als psychologisch kompensatorischen Affekt. Er bezeichnet ihn als den "wohlfeilsten Stolz", weil er dort auftritt, wo individuelle Gründe zur Selbstachtung fehlen. Stolz, so Schopenhauers implizite Prämisse, setzt persönliche Zurechenbarkeit voraus. Nationale Zugehörigkeit hingegen ist eine kontingente Eigenschaft qua Geburt und daher kein legitimes Objekt des Stolzes. Man kann ja nichts für den Ort der eigenen Geburt und hat auch nichts zur Historie der Nation beigetragen.

Schopenhauers Kritik ist also nicht gleich moralisch, sondern erst einmal begrifflich und erkenntnistheoretisch fundiert. Nationalstolz gründet in einer kategorialen Verwechslung: Eigenschaften, Leistungen und Tugenden werden vom Individuum auf ein Kollektiv verschoben und anschließend emotional und individuell wieder angeeignet. Doch mit dieser Verwechslung ist noch nicht Schluss, sie hat Folgen: der Nationalstolz unterläuft die individuelle Urteilskraft und ersetzt sie durch identifikatorische Loyalität. Jegliches Urteil über die Errungenschaften oder Verfehlungen der Gruppe wird suspendiert, weil es "meine Gruppe" ist. 

Nationalstolz als kollektiver Affekt des Willens

Im Hintergrund dieser Analyse steht Schopenhauers Metaphysik des Willens. Schopenhauer versteht den Willen als vor-rationale, blinde Grundkraft alles Lebendigen, die sich in Individuen, Trieben, Affekten und sozialen Formen objektiviert. Wo dieser Wille nicht durch Erkenntnis und individuelle Selbstreflexion gebrochen wird, sucht er Stabilität in äußeren Formen der Selbstbehauptung. Der Nationalstolz erscheint so als kollektive Objektivierung des Willens zur Selbstbehauptung. Was den Individuen an innerer Stabilität, geistiger Eigenständigkeit oder moralischer Exzellenz fehlt, wird durch Zugehörigkeit zur Gemeinschaft kompensiert. Der Wille findet Halt nicht in Moral, Einsicht oder Erkenntnis, sondern in Affektbindung, also der emotionalen Verknüpfung mit Personen oder Systemen, die Sicherheit und Zugehörigkeit vermittelt.

Diese Struktur erklärt auch die aggressive Dimension kollektiver Identitäten. Wo Stolz nicht auf Leistung, sondern auf Abgrenzung beruht, schlägt er leicht in Feindseligkeit um. Nationalstolz ist daher für Schopenhauer nicht nur irrational, sondern (und hier wird's jetzt moralisch) potentiell konfliktträchtig und bringt Leid hervor. Er erzeugt Selbstwert durch Vergleich und benötigt das Außen als negatives Gegenbild. Die so aufgebauten Spannungen lassen sich gut in Agressionen gegen das vermeintlich Andere übersetzen. Das kann einem Philosophen nicht schmecken, dem die Vermeidung von Leid als höchste Moral gilt.

Der autoritäre Charakter als emotionale Konfiguration

Diese schopenhauersche Analyse lässt sich also ganz produktiv mit der Theorie der autoritären Persönlichkeit verbinden. Autoritäre Dispositionen sind weniger durch konsistente Ideologien gekennzeichnet als durch stabile Affektmuster: Unterwürfigkeit gegenüber Autorität, Aggression gegenüber Abweichlern, Intoleranz gegenüber Ambiguität und ein starkes Bedürfnis nach Ordnung.

In schopenhauerscher Perspektive handelt es sich hierbei um eine spezifische Form der Willensobjektivierung. Der autoritäre Charakter externalisiert Selbstwert, Urteil und Verantwortung auf äußere Instanzen – Nation, Tradition, Führung. Autorität fungiert als Ersatz für Selbstreflexion. Das Subjekt entlastet sich von der Zumutung eigener Urteilskraft und gewinnt im Gegenzug emotionale Sicherheit.

Die erkenntniskritische Dimension des Autoritarismus

Autoritarismus ist nicht nur ein politisches oder moralisches Problem, sondern ein epistemisches. Autoritäre Affektordnungen gehen mit einer Abwehr offener Wahrheitssuche einher. Mehrdeutigkeit, Selbstkritik und revisionsoffene Erkenntnis werden als Bedrohung erlebt. An ihre Stelle treten Dogma, Konformität und Loyalität.

Schopenhauer würde sagen: Der Wille scheut Erkenntnis dort, wo sie desillusionierend wirkt. Wahrheit entzieht dem kollektiven Selbstbild seine affektive Stabilität. Der autoritäre Charakter schützt sich daher vor Erkenntnis, indem er sie durch identitäre Gewissheit ersetzt. In diesem Sinne ist Autoritarismus eine Form organisierter Selbsttäuschung.

Menschen brauchen gute Gemeinschaft

In Moral für ein neues Mittelalter hatten wir Alasdair MacIntyres Kommiunitarismus als moralische Orientierung in unübersichtlichen Zeiten vorgestellt. MacIntyres Ansatz läuft also sehr auf kleine Gruppen und Identifikation in ihnen hinaus. Ein kurzer Vergleich Schopenhauers mit Alasdair MacIntyre bietet sich hier an. MacIntyre kritisiert zu Recht den liberalen Mythos des isolierten, traditionslosen Subjekts, den der westliche Kapitalismus uns stöndig vermittelt. Moralische Begriffe, so seine These, gewinnen ihren Sinn erst innerhalb sozialer Praktiken und historischer Traditionen. Gemeinschaft ist für ihn keine bloße emotionale Zugehörigkeit, sondern eine Bedingung praktischer Rationalität.

Schopenhauer teilt die Skepsis gegenüber einem abstrakten Individualismus, zieht jedoch eine radikal andere Konsequenz. Wo MacIntyre in Traditionen Orte moralischer Orientierung sieht, erkennt Schopenhauer primär das Risiko epistemischer Abschottung. Gemeinschaftliche Sinnstiftung wird immer dort problematisch, wo sie affektiv internalisiert und nicht reflexiv durchdrungen wird.

Der autoritäre Charakter markiert jene Pathologie gemeinschaftlicher Einbettung, die Ansätze wie der von MacIntyre konsequent unterschätzt: die Delegation von Urteilskraft an Tradition und Autorität. Gemeinschaft wird dann nicht Medium moralischer Bildung, sondern Instrument der Selbstentlastung.

Wie wäre denn eine "gute Gemeinschaft" bei Schopenhauer möglich? Ganz klar nur unter dem Vorbehalt, dass sie nicht identitär, nicht sinnstiftend und nicht affektiv verschmolzen ist. Sie gründet nicht in Tradition oder Zugehörigkeit, sondern im Mitleid als individueller moralischer Einsicht und dient nicht der Selbstvergewisserung, sondern der Begrenzung von Leid. Eine moralische Gemeinschaft entsteht so nicht durch ein großes kollektives Wir, sondern durch Interaktion zwischen Ich und Du. Gemeinschaft ist kein Ort der Wahrheit, sondern eine fragile, stets revisionsbedürftige Praxis des gegenseitigen Schonens. 

Nationalstolz, Autoritätsbindung und kollektive Identität sind für Schopenhauer keine Quellen von Stärke, sondern Symptome eines anthropologischen Defizits: der Unfähigkeit, sich vom eigenen Willen zu distanzieren. Folgerichtig sind für ihn Institutionen (Recht, Vertrag, staatliche Ordnung) notwendig zur Eindämmung des Willens. Kollektive Affekte wie Begeisterung, Nationalgefühl oder moralische Selbstfeier helfen da gar nichts. Gemeinschaft, könnte man mit Schopenhauer sagen, funktioniert dort am besten, wo sie kaum bemerkt wird.

Autoritarismus ist damit weniger ein politischer Ausnahmezustand als eine immer mögliche Versuchung menschlicher Selbstentlastung. Ihm zu begegnen bedeutet nicht nur institutionelle Sicherungen zu schaffen, sondern die Bedingungen individueller Vergeistigung zu stärken: Urteilskraft, Erkenntnisoffenheit und die Fähigkeit, Wahrheit auch dort auszuhalten, wo sie das eigene Selbstbild infrage stellt. Aber das grenzt ja fast schon an Weisheit. 


Bei der Recherche zu diesem Artikel kam KI zum Einsatz. Die hier dargelegte Lesart stützt sich auf Schopenhauers Metaphysik des Willens und seine Ethik des Mitleids (WWV I–II; Über die Grundlage der Moral), ergänzt durch seine Kritik kollektiver Affekte und identitärer Selbstzuschreibungen in den Parerga und Paralipomena.

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