16. Februar 2014

Der wandernde Geist - Zerstreuung als Normalzustand

Um es vorweg zu nehmen: Natürlich haben wir ein Problem mit der Konzentration! Spätestens seit der Erfindung des elektrischen Lichts (ganz zu schweigen von Fernseher und Laptop) neigen wir dazu, alles mögliche parallel zu machen. Mir selbst fällt es schwer, nur zu essen, ohne irgend etwas zu lesen, zu reden oder Nachrichten zu schauen. Warum? Unser Hirn langweilt sich ohne Input, wir sind darauf programmiert, die Umwelt ständig nach Informationen abzuscannen. Die Konzentration auf das vermeintlich Wesentliche fällt uns schwer. Vielleicht ist das Wesentliche gar nicht vor mir, sondern findet an der Peripherie meiner Wahrnehmung statt? Also immer weiter scannen...
"Willenlose, ungerichtete Zerstreuung ist das eigentliche Prinzip der Evolution, und zwar von Anfang an! Ich meine, der Urknall fand gewiss nicht deshalb statt, weil die Schöpfung sich auf das Wesentliche konzentrieren wollte." (Wolfram Eilenberger, Philosophie Magazin Nr. 2/2014, S. 3)
Lesen, schreiben, essen, trinken... alles zugleich? (Quelle: Social Europe via Flickr)

Achtsamkeit, Wertschätzung, ungeteilte Aufmerksamkeit, Meditation sogar: Das sind die neuen quasi-religiösen Fetische, über die heute alle Twittern oder Facebook-Meme liken und gleichzeitig essen, fernsehen und dabei den nächsten Artikel aus dem niemals enden wollenden Schwall von Blog- und Online-Magazin-Veröffentlichungen lesen. Das ist halbwegs widersprüchlich, oder?

Zerstreuung als Normalzustand

Warum ist es eigentlich so anstrengend, sich zu konzentrieren oder gar zu meditieren? Warum fällt es uns so leicht, zerstreut zu sein, hin und hergerissen zu werden zwischen verschiedenen Sinnesreizen? Warum fühlt es sich sogar so gut an, wenn wir einfach nur unseren Impulsen folgen und uns ablenken lassen? Vielleicht, weil es ganz natürlich und somit ein Normalzustand unseres Geistes ist!

"Sobald unsere Aufmerksamkeit nicht durch die Sinneswahrnehmung an den aktuellen Moment gebunden oder durch eine dringend zu lösende Aufgabe gefesselt ist, beginnt unser Geist zu wandern. Wir verlieren uns dann in inneren Geschichten, driften in Tagträume ab oder beginnen automatisch und unwillkürlich mit der Planung zukünftiger Handlungen." (Thomas Metzinger, Philosophie Magazin Nr. 2/2014, S. 59)

Hier ist das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk im Normalmodus unseres Gehirns am Werk, das default mode network. Verschiedene Regionen des präfrontalen Cortex, Teile des Gyrus cinguli, Regionen im Scheitellappens und im Hippocampus werden dabei zeitgleich aktiviert und vernetzen sich. Es ist eine erstaunliche Eigenart des menschlichen Gehirns, dass es in seinem Ruhezustand nur ca. 5% weniger Energie verbraucht, als im Zustand erhöhter Aufmerksamkeit etwa beim Problemlösen. Das scheint auch nahe zu legen, dass dieser Standardzustand enorm wichtig für unsere geistige Gesundheit ist. Zerstreut sein, tagträumen und ziellos wandernde Gedanken zeichnen den Normalzustand des menschlichen Geistes aus. Nicht zuletzt bietet sich durch die Zerstreuung unserer Wahrnehmung eine große Offenheit und Wachsamkeit gegenüber den zahllosen Sinnesreizen, denen wir permanent ausgesetzt sind und die eine gezielte Aufmerksamkeit überfordern würden. Vielleicht hilft ein Blick in unsere Evolutionsgeschichte, um das zu verstehen:

"Da wir [...] dauerhaft mental überfordert sind, überleben in der Stammesgeschichte diejenigen, deren Aufmerksamkeit  die wichtigen Reize herausgriff: ein lautes Knurren zur Rechten, ein dunkler Schatten, der sich von links nähert ... Was wir heute als Zerstreutheit erleben, sind die evolutionären Nachwehen dieser ständigen Wachsamkeit." (Philipp Hübl, Philosophie Magazin Nr. 2/2014, S. 56 f.)

Heute, da die Säbelzahntiger tot sind, spielt das vor allem noch im sozialen Miteinander eine Rolle: Ohne Unterlass suchen wir nach Anzeichen von frust- oder lustbezogenen Emotionen bei anderen um uns herum. Denn zwischen den eigenen Emotionen und denen der Anderen tut sich heute der gefährliche Dschungel auf, durch den wir navigieren müssen. Sollten die Anderen gerade nicht mit uns am Tisch sitzen, sondern Kilometer weit entfernt allein auf ihrer Couch mit dem Tablet auf den Knien, dann versuchen wir ihre Signifikanz für uns eben aus ihren Tweets oder Facebook-Einträgen heraus zu lesen. Wir können nicht anders, als ständig auf der Suche nach diesen sozialen Zeichen zu sein. Vom bedrohlichen Knurren und den dunklen Schatten, sind heute noch das Vibrieren unseres Handys und das Blinken der Led-Anzeige übrig geblieben.

Zerstreute Konzentration

Zu einem wirklichen Problem wird es, wenn beides zusammenfällt: Die zerstreute Konzentration, die von so vielen von uns auf der Arbeit verlangt wird. Ein Beispiel wäre hier das Lesen all der E-Mails am Schreibtisch, dann kommt noch ein Mitarbeiter zur Tür rein und will schnell eine Entscheidung oder Unterschrift und fast zeitgleich gibt der Chef noch durchs Telefon die Anforderung nach einem Report kurz vor der Sitzung in einer halben Stunde. Man muss ständig auf kleine Einheiten konzentriert sein, schon um sie priorisieren zu können. Man muss sich auf jede E-Mail konzentrieren, um einschätzen zu können, wie wichtig sie ist. Das Telefon hat eine ganz eigene Alarmqualität, die scheinbar Konzentration erfordert, aber doch eher verhindert: Es irritiert mich immer wieder, wie ein Telefonanruf selbst dann wichtiger genommen wird, wenn ich gerade mit der anderen Person im Gespräch bin. Der Leipziger Philosoph Christoph Türcke geht in seinem Buch Hyperaktiv!: Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur auf diese durchaus gewalttätigen Unterbrechungslogiken unseres Alltags ein. Hier sehe ich eher die Notwendigkeit, aktiv gegen zu steuern. Wenn unsere Arbeitsumgebung eine wahre Konzentration nicht ermöglicht, dann muss man selbst aktiv dafür Sorge tragen. Es ist nicht einfach, aber ich versuche ganz bewusst, meine Aufmerksamkeit einer Tätigkeit für längere Zeit zuzuwenden. Ich habe die E-Mail-Benachrichtigungsfunktion abgestellt, das Telefon klingelt nicht, sondern blinkt und manchmal - wie unmodern - mache ich sogar meine Bürotür zu!

Natürlich haben wir das Bedürfnis nach Konzentration: In der Stammesgeschichte etwa auf der Jagd oder beim Herstellen eines Faustkeils und heute beim Schreiben, Lesen, Programmieren oder was auch immer wir gezielt machen wollen. Aber wir sollten uns nicht von irgend welchen Meditations-Gurus oder von der andauernden Anforderung, gefälligst achtsam zu sein, unter Druck setzen lassen. Zerstreuung ist genauso normal und notwendig wie die Konzentration. Aufpassen müssen wir, dass sich Zerstreuung und Konzentration nicht in eins mischen und am Ende selbst die konzentrierte Tätigkeit zur Zerstreuung wird. Denn das schlaucht wirklich und bringt am Ende auch nichts hervor, auf das wir stolz sein können.


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3 Kommentare:

  1. Sehr interessante Sichtweise!
    Demnach haben "ADS-Menschen" also gar kein Defizit, sondern die moderne Welt kann lediglich nichts mehr mit ihren besonderen Fähigkeiten anfangen.

    Kurz nach Lesen dieses Artikels sah ich auf dem Rathausplatz einen Mann mit einem Schäferhund an der Leine. Der Mann ging schnurstraks auf sein Ziel zu, der Hund aber tänzelte hin und her. Von allem Möglichen ließ er sich ablenken: dem Skater, den lachenden Schülern, der quitschenden Straßenbahn. Besonders fesselte ihn ein vorbeirennender Junge :-)
    Dem Hund sah man an, dass er auf keinen Fall etwas verpassen wollte/durfte. Dein Artikel macht deutlich, warum: In der Natur hätte ein einziger verpasster Impuls von außen nämlich vielleicht seinen Tod bedeuten können.

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    1. Hallo Pit, du triffst den Nagel auf den Kopf, denke ich (jedenfalls mit dem zweiten Teil deines Kommentars). Anhaltende Konzentration ist nur dort erschwinglich, wo sie sich fürs Tier wirklich lohnt, zum Beispiel beim gemeinsamen Angriff der Wölfe aufs Huftier. Im Normalfall darf es sich nicht konzentrieren, um Opportunitätskosten und Todesgefahr zu minimieren.

      Trotzdem gibt es sicher auch Menschen, bei denen die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, soweit reduziert ist, dass man es ein Defizit nennen kann. Ganz den Spieß umdrehen und nur "auf die Gesellschaft" zeigen geht genauso wenig, wie auf die böse Evolution zu zu zeigen, wenn ein Tier nicht fit für seine Umwelt ist. Glücklicherweise ist es für den Menschen mit einem Defizit nicht genauso fatal, wie für ein Tier. Denn die Gesellschaft schützt uns glücklicherweise vor den hart selektierenden Faktoren der Evolution.

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  2. Das ist mal eine interessante Sichtweise. Es ist auch so, je mehr wir uns zwingen, „ich muss jetzt aber achtsam sein“, desto mehr wird das Gehirn dagegen finden. Doch wenn man sich auf die Zerstreuung einlässt, dann hat man irgendwann soviel Informationen zusammen, dass das Gehirn dann schon mal von allein die Scheuklappen aufsetzt.

    Letztlich kann man es doch auch als einen natürlichen Lauf sehen, oder? Es gibt die Zeit der Zerstreuung, der Impulsaufnahme, und dann gibt es die Zeit der Verarbeitung dieser Impulse. Und das macht man am besten, in dem man sich auf eine einzige Sache konzentriert und somit das Gehirn „in Ruhe lässt“.

    Aber wann was und wie am besten stattfindet, das überlässt man auch am besten dem Gehirn. Nur nicht dem Gehirn des im Komfortzonen-Sitzers :) 

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