12. Dezember 2017

Schreibt mir eure Kindheitserinnerungen!

Was haben unsere Erinnerungen mit uns heute noch zu tun?

Wir alle haben wohl mehr oder weniger starke Kindheitserinnerungen. Ich habe eine ganze Menge davon. Viele meiner Erinnerungen betreffen das soziale Lernen, beispielsweise, wie mir meine Mutter das erste uns einzige Mal in meinem Leben eine scheuerte, weil ich sie vor anderen im Kindergarten eine "blöde Kuh" genannt hatte. Was das heute noch mit mir zu tun hat? Vielleicht habe ich damals eine wichtige gesellschaftliche Lektion gelernt, etwa wie sehr eine öffentliche Kränkung Menschen zum äußersten bringen kann (denn schlagen war tabu). Eine andere Erinnerung ist, wie die Mutter meines Freundes ihm zur Strafe mir anbot, all seine Süßigkeiten aufzuessen. Was ich dann prompt tat. Es fühlte sich nicht gut an. Eine dritte Erinnerung ist, wie ich einen erwachsenen Mann auf einer Leiter ein Arschloch nannte und wegrannte. Nur, um zu Hause ganz außer Atem anzukommen, wo mein Vater schon auf mich wartete, weil er einen Telefonanruf von eben diesem Mann bekommen hatte. Natürlich habe ich auch tolle prägende Erinnerungen wie die Fahrradtouren mit Freunden zu den Seen im Berliner Norden oder die schier endlosen Sommer mit den Pferden auf dem Gestüt in Graditz, wo meine Tante lebte.

Bilder meiner Kindheit

Eine Erinnerung ganz anderer Art habe ich an die ostberliner Neubauwohnung, in der ich in den 70er Jahren aufwuchs und wie schrecklich ich unser schwarzes Bakelittelefon mit der schwergängigen Wählscheibe und dem brutalen Klingeln fand. Dieses Klingeln schien ab und an ohne jegliche Vorwarnung das ganze Haus zu erschüttern. Irgendwie war es mir unheimlich, dass da jemand mir noch unbekanntes aus der Ferne so ein brutales Geräusch über ein totes Gerät in meiner Wohnung verursachte. Das Klingeln erschreckte mich nicht nur durch seine Plötzlichkeit, sondern – und das ist jetzt natürlich die nachträgliche Interpretation des Erwachsenen – gab mir auch das Gefühl dafür, wie es sein müsste, nicht da zu sein. Denn das Klingeln wäre trotzdem da, nur eben ungehört. Es jagte mir kalte Schauer über den Rücken und ich ging nicht ran.

Auch Walter Benjamin erinnerte sich in seinen Illuminationen des Telefons seiner Kindheit Ende des 19. Jahrhunderts, "wo sein Läuten die Schrecken der Berliner Wohnung nur steigerte" und er "gnadenlos der Stimme ausgeliefert [war], die da sprach". Oder denken wir an Jean-Paul Sarte und sein wirklich schönes Buch Die Wörter, in dem er seine Schlaumeier-Kindheit auf philosphische und durchaus lustige Weise erinnert. Oder das klassische Ausbuchstabieren des Erinnerungsvorgangs, wie ihn Proust als Genuss einer Madeleine in seinem Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit betreibt. Denn philosophisch und schriftstellerisch ist das Erinnern äußerst interessant und sogar eine Hauptdimension des Denkens. Ohne Erinnerung ist das Denken nicht möglich, denn es ist ein sukkzessives Zusammenknüpfen einzelner Gedanken zu einem Denkprozess von zeitlicher Dauer. Wer sich nicht an seinen Gedanken von eben erinnert, kann schlicht nicht denken.

Das Erinnern ist es ein wesentlicher Grund dafür, dass wir uns stabil durchs Zeitkontinuum als eine Person, ein Individuum wahrnehmen. Ohne Erinnerung, wären wir heute nicht die Person, die wir gestern waren. Auf der anderen Seite ist Erinnern immer auch ein schöpferischer Akt, eine Autopoisis, ein Erfinden. Das heißt wir waren gestern eigentlich gar nicht die Person, an die wir uns heute zu erinnern meinen. Wir erfinden vielleicht positive Aspekte hinzu oder verdrängen peinliche Momente und so weiter. Oft kommt es zu Verklärungen und Leute denken, früher sei alles besser gewesen. Dabei zeigen langfristige Untersuchungen, dass wir im Alter eigentlich immer glücklicher werden.

Die Nostalgie ist ein durchaus starkes Feature des Erinnerns. Unsere Moderne liebt den verklärenden Blick auf die Kindheit. Kinder früherer Jahrhunderte hatten wenig Schönes, auf das sie als Erwachsene zurückblicken würden, man lese nur den wundervoll ergreifend-grausamen Roman David Copperfieldvon Charles Dickens. Dabei bedeutet Kind sein auch heute immer noch, in einem hohen Grade unfrei zu sein. Als Kind darf man vieles nicht, man versteht vieles nicht, man kann nicht selbst entscheiden, womit man seine Zeit verbringt, was man isst und trinkt. Eine Sache, die mich als Kind genervt hat, waren Hausaufgaben und andere Verpflichtungen nach der Schule. Man hat als Kind eigentlich nie frei und ist irgendwie immer unter Beobachtung. Meine ehemalige Professorin, die Philosophin Susan Neiman, sagt im Philosophie Magazin:

"Zumal es ja auch interessant ist, dass kein Kind Kind bleiben will. Diese Nostalgie für die Kindheit kommt erst wesentlich später. Und die wird uns bis zu einem gewissen Grad eben auch eingeredet, weil es dann später heißt: Jetzt bist du dreißig, die Zeit der Wünsche und Hoffnungen ist vorbei." (Philosophie Magazin, 01 / 2018, S. 61)

Ich habe das auch genau anders herum erlebt: Als ich von meinen Eltern auszog, hatte ich plötzlich ein enormes Freiheitserlebnis. Und das, obwohl ich alles in allem eine wirklich schöne Kindheit hatte, wie ich meine. Plötzlich jedoch konnte ich entscheiden, wann ich was tue. Die Zeit der Erfüllungen der großen Wünschen und Hoffnungen brach also erst jenseits meiner Kindheit an.

Mich interessiert deswegen, an was sich meine Freunde, Bogger und Kollegen so erinnern. Was sind eure Kindheitserinerungen und was hat das heute noch mit euch zu tun? Die zusammengestellten Erinnerungen werden wir am 24. Dezember veröffentlichen. Wer noch dazu beitragen möchte, kann seine Erinnerungen im Kontaktformular hinterlassen oder auch einfach hier unten in den Kommentaren.



Das passt dazu:

4 Kommentare:

  1. Lieber Gilbert, was für eine schöne Idee!

    Mit der Herausgabe meines Erstlingswerks als Illustratorin reflektierte ich mein Bücher-Universum - von der Kindheit bis heute. Es war faszinierend, wie sich die Geschichte im Rückblick stimmig entwickelte und mich heute zu der macht, die ich bin: Immer noch ein großer Bücherwurm!

    http://madiko.com/zeitmaschine/news-und-meldungen/news?newsid=252

    Freue mich sehr auf alle Geschichten und wünsche allen Beteiligten viel Freude daran,
    Franziska

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  2. An welche Erinnerungen denkst Du? Und wo werden sie veröffentlicht?
    Bis zu welchem Jahr gelten Erinnerungen als Kindheitserinnerungen?

    Im Set meiner Erinnerungen gibt es auch schreckliche Dinge, die wohl kaum neben Dingen wie Geruch einer bestimmten Speise ect zu stehen haben.
    Das gilt es zu klären.

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    1. Hallo Gerhard, Erinnerungen, Erinnerungen, Erinnerungen... völlig unabhängig davon, an was ich denke. Ich kann ja niemandem seine/ihre Erinnerungen "vorschreiben". Egal ob Speise oder schrecklich, ich veröffentliche das hier auf Geist und Gegenwart. Und ich weiß nicht, bis wie lange du dich selbst als Kind begreifst. Da gibt es für mich keine feste Altersgrenze.

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  3. Es gibt hiervon eine Reihe bedeutender und einschneidender Erfahrungen:

    1) Als kleiner Knirps zeichnete ich mit einem Stock ein Frauenportrait in den Sand am Rande der Straße. Das Portrait gelang aus dem Stegreif enorm gut und ich musste es Mutter zeigen. Bald war es natürlich abgenutzt und zerstört.
    2) Mutter versprach mir ein Lob, wenn ich mein erstes Buch lesen würde. Ich gab nach der Hälfte vor, es gelesen zu haben, kassierte das Lob, konnte aber nicht an mich halten und musste den Verrat zugeben.
    3) Ich schubste als Fünfjähriger meinen kleinen Bruder im Kinderwagen die Kellertreppe hinab - ohne Konsequenz für ihn Gottseidank. Für meine Mutter sicher der reinste Horror.
    4) Ich war an der Sterbensgrenze mit 5 - ich hatte eine Krankheit, gegen die es damals kaum etwas gab. Irgendein US-Medikament half dann doch.

    Schlimmeres - und das gab es leider - habe ich jetzt aussen vorgelassen.

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