7. Februar 2013

Wie finden Körper und Seele zusammen?

Wenn ihr eure Freunde trefft, umarmt sie! Väter, umarmt eure Kinder!


Der amerikanische Minimalsimus-Blogger Leo Babauta hat in einem Interview den Gesundheits- und Natur-Guru Mark Sisson gefragt, welches das deutlichste Defizit des modernen menschlichen Körpers sei. Seine Antwort:
"Ein Mangel an körperlicher Berührung. Menschen sind soziale Tiere, wie man so sagt. Sozialer Kontakt zwischen Menschen sollte nicht steril und beiläufig sein. Die meisten sozialen Tiere verbringen die meiste Zeit des Tages damit, andere Gruppenmitglieder zu berühren. Sie schlafen aneinandergeschmiegt, Lausen sich gegenseitig, spielen und raufen mit einander und beschnüffeln sich gegenseitig. Sie benötigen ständige physische Berührung und können, da sie keinen sozialen Normen unterliegen, diesen Bedarf auch stillen."
Da muss ich mal kurz unterbrechen: Natürlich unterliegen alle sozialen Tiere auch sozialen Normen, denn Normen gehören eben zur Definition von sozial. Wer eine Horde Affen beobachtet, wird schnell sehen, wer wen berühren darf und dass das erhebliche Signifikanz für die soziale Stellung des Individuums hat. Und wer eine Herde Pferde beobachtet, wird bemerken, dass Tiere von der sozialen Gruppe ausgeschlossen und weggejagt werden. Diese haben dann lange Zeit gar keinen Kontakt zu anderen Pferden. Das ist auch gar nicht grausam, sondern notwendig, um zum Beispiel neue Herden zu gründen oder den Genpool mal ordentlich durchzumischen.

Das soziale Tier: Auch Scham hat seinen Ursprung in der Horde (Foto: Gilbert Dietrich)

Was Sisson hier sicher meint, ist dass es bei Tieren weniger solche internen-externen Restriktionen wie zum Beispiel Scham gibt. Scham ist anthropologisch sehr interessant, denn es ist ein starkes menschliches, fast primäres Gefühl, das aber doch auf gesellschaftliche Normen zurück geht und sich dann direkt in den Körper einarbeitet (vielleicht bis hin zur Schambehaarung?). Diese Normen haben ihren Ursprung in jenen Umgangsformen, die wir bei sozialen Tieren wie Affen, Vögeln und Pferden beobachten können. Aber weiter bei Sisson:
Menschen sind auch soziale Tiere, die physischen Kontakt benötigen. Aber sozialer Kontakt zwischen Menschen ist eher steril und beiläufig. Das ist schade, denn physischer Kontakt hat enorme körperliche und psychische Vorteile. Ganz buchstäblich zum Beispiel bei Willkommens- und Begrüßungs-Berührungen - eine Umarmung, ein Kuss, eine Massage -, die sich vorteilhaft auf die Genexpression auf molekularem Level auswirken: sie reduzieren Stress, setzen Oxytocin frei und hemmen Entzündungen. Babys mit einem Berührungsdefizit zeigen eine unregelmäßige Freisetzung von Wachstumshormonen, Stresshormonen und Hormonen wie Oxytocin, die für Harmonie und Gefühlen bei menschlichen Bindungen wichtig sind.
 
Wenn ihr eure Freunde trefft, umarmt sie! Väter, umarmt eure Kinder! Streichelt eure Haustiere, kratzt euren Katzen hinter den Ohren. Schließlich seid ihr deren Familie und sie haben eventuell kein anderes Ventil für ihr Bedürfnis nach Berührung.
 
Und, Leute: habt Sex! Am besten oft und mit jemandem, der euch wichtig ist. Sex fühlt sich gut an, festigt soziale Bindungen und unterstützt euer Immunsystem. Vielleicht befeuert es sogar das Zellwachstum in eurem Gehirn.
Im Interview macht Sisson an vielen Stellen unsere moderne Kommunikationstechnik verantwortlich für unsere psychischen und physischen Defizite. Denn, wer immer auf sein Smartphone starrt, der wird sicherlich weniger in sich hineinhören oder in die schöne bunte Welt ums sich herum hinaussehen. Das ist ziemlich plausibel, denke ich. Auf der anderen Seite sind viele der früheren restriktiven gesellschaftlichen Normen und Schamgrenzen inzwischen gefallen: Sex, öffentliche Zärtlichkeit, Nacktheit. Auch die Scham wird in unserer Kultur zurückgestutzt. Das geht sogar so weit, dass heutzutage Schambehaarung möglichst ganz entfernt wird. Diese Phänomene sind nicht leicht zu durchschauen und wir verstricken uns in den Bewertungen von Pornographie, Höflichkeit und Körperlichkeit in Widersprüche. Ist es nun gut, wenn die Hüllen fallen und wir unsere Körperlichkeit hemmungsloser leben oder ist es nur ein distanzierter Voyeurismus ohne eigentlichen Kontakt, ist es gar Ausbeutung? Ich will mich nicht auf irgend eine Seite stellen, ich bin nicht hier, um zu richten, sondern nehme die Phänomene, wie sie kommen und akzeptiere, dass sie ihr ambivalentes Eigenleben führen und uns Menschen in diese Widersprüchlichkeit hineinziehen.

Fakt ist, der Körper ist nicht mehr das Grab der Seele. Sogar in der modernen Psychologie ist der Körper angekommen. In diesem Zusammenhang stehende Konzepte heißen zum Beispiel "Embodiment" und "Leibgedächtnis", in welchem "all unsere vergangenen sensorischen, motorischen und emotionalen Erfahrungen" (GEO 02|2013, S. 82) gespeichert sind und in der Gegenwart nachwirken. Ein Beispiel, dass dieses Lernen im Leben anhält, ist das Autofahren: Hier rufen wir kein explizites Wissen ab, wenn wir ganz automatisiert die Gänge hoch und runter schalten und Hindernissen routiniert ausweichen. Das ist ein dem Sport ähnlicher Trainingseffekt, der sich zwischen Körper und Geist manifestiert. Für unser Leben viel entscheidender sind aber die sehr frühen Lernerfahrungen, aus denen sich Muster ergeben, die aus dem jeweils ganz individuellen Maß an körperlicher Zuwendung und Sicherheit resultieren, das wir bereits als Kleinkinder erfahren haben. War die Zuwendung ausreichend und positiv, dann sind wir als Erwachsene eher resilient, stehen Krisen besser durch und vertrauen unseren Mitmenschen und uns selbst. Wie kommt es, dass diese Zeit dermaßen prägend ist?
"Im ersten Lebensjahr verdoppelt sich das Hirnvolumen, im neunten Monat erreicht die Neubildung neuronaler Verschaltungen ihren Höhepunkt. Besonders schnell reifen in dieser Phase Hirnareale, die wichtig sind für Stressregulation, Affekte und Emotionsverarbeitung. Dabei entstehen fast doppelt so viele Synapsen wie erforderlich. 'Nutze sie oder verliere sie', sagt Michael Merzenich, einer der wegweisenden Erforscher der Plastizität unseres Gehirns. So wird das neuronale Netzwerk abhängig von den frühen Erfahrungen des Kindes 'zurechtgestutzt' und angepasst an jene Umwelt, in der es bestehen muss. Das geschieht vor allem über die Interaktion mit der engsten Bezugsperson - meist der Mutter. Deren wichtigste Aufgabe in dieser Phase: dem Baby Sicherheit zu geben und den Stress abzupuffern, mit dem es auf diese neue, fremde Welt reagiert." (GEO 02|2013, S. 82)
Diese Erkenntnisse fließen auch immer mehr in die Psychotherapie ein. Achtsamkeit ist so ein Stichwort, dass jedem gleich einfällt: das bewusste Spüren des eigenen Körpers, die Konzentration auf dieses sensorische Erlebnis, ein Mensch mit unendlich vielen Sinneszellen zu sein. In Bewegungstherapien öffnet der Körper einen Zugang zu Emotionen und Auswege aus längst verhärteten Konflikten. Man kann also der Beobachtung von Mark Sisson nicht uneingeschränkt Recht geben: Wir entdecken zunehmend die Bedeutung des Körpers und die Wichtigkeit der Berührungen, die ein Körper einem anderen schenken kann. Das wir das im Alltag (noch) nicht genügend berücksichtigen, kann sicher nicht bestritten werden. Jedoch hat die zunehmend durch Medien vermittelte Wahrnehmung der Welt (Smartphone, iPod, Kamera) auch eine Gegenbewegung in Gang gesetzt: Die Würdigung des unmittelbaren Erlebens, der gelegentliche Rückzug aus der technisierten Welt. Das wird den Lauf der Welt nicht umkehren, die Brille wird kommen, die uns die Metadaten der Wirklichkeit aus dem Internet ständig auf die Netzhaut projiziert. Aber vielleicht lernen wir einen vernünftigen Umgang damit, der nicht auf Kosten des Naturerlebens, der zwischenmenschlichen Interaktion und der körperlichen Zuneigung geht. Ein Anfang können wir damit machen, dass wir das Smartphone oder Tablet einfach mal ausschalten, in die Wolken kucken, einem anderen in die Augen schauen und in den Arm nehmen. Machen Sie es jetzt gleich, wenn Sie können! Na, wie fühlt sich das an?

3 Kommentare:

  1. Lieber Gilbert,
    .. ich bin eigentlich verblüfft: denn dies alles ist für mich ganz normal. Wenn ich das Bedürfnis habe, wem zu berühren, dann mache ich es auch, aber man muß auch bedenken, das wir nicht alle gleich fühlen und so muß man dies auch respektieren und nicht falsch verstehen, wenn ein Anderer dies nicht möchte ..aus welchen Gründen auch immer.
    LG.waltraud a.

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    1. Das ist schön, dass das für dich normal ist, so sollte es sein!

      Ich weiß nicht, ich denke, der Mark Sisson schießt etwas übers Ziel hinaus: Ich bin froh, wenn ich andere nicht beschnüffeln muss. Im Grunde läuft es auf die Unterscheidung (oder basser: das Ineinanderblenden) von Natur und Kultur hinaus. Sisson vernachlässigt wie die meisten Romantiker die menschliche Evolution mitsamt ihrer kulturellen Entlastungen von den natürlichen Bedrängungen. Es hat eben evolutionär und gesellschaftlich seinen Sinn, dass wir Scham entwickelt haben, um nur ein Beispiel zu nennen. Wir brauchen uns nicht beschnüffeln oder den ganzen Tag lausen. Wir haben besseres zu tun :)

      Auf der anderen Seite, sollten wir eben das Bedürfnis nach dem "human touch" oder auch dem unseres Hundes oder unserer Katze nicht vernachlässigen, sondern uns hingeben und genießen. Das tut gut.

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  2. Ich denke nicht, dass Sission recht hat. Was hier als "den ganzen Tag" bezeichnet wird, sind auch nur Einheiten, die auch nicht jedes Tier genießt. Im Gegenteil, drängt man Tieren den Körperkontakt zu anderen auf, z.B. in einem Transporter ist es für sie ebenso Stress wie für uns in einer überfüllten Bahn. Hunde haben einen wesentlich größeren Distanzrahmen als Menschen, wenn sie aneinander vorbeigehen als Menschen. "Sie schlafen aneinandergeschmiegt..." - das trifft auf einen kleinen Prozentsatz zu, und das auch nicht stundenlang. Und "einfach so" beschnüffeln sie sich auch nicht, das ist nicht wahr, hier wird auch via Körpersprache das Einverständnis des anderen erst eingeholt, und je nach Position darf auch nur mal einer schnüffeln und der andere nicht. Das ist m.E. eine Idealisierung, wenn jemand sich selbst nach körperlicher Nähe sehnt.

    Achtsamkeit, wie du, Gilbert, schon genannt hast, und Respekt gehören zu einem sensiblen Körperkontakt unbedingt dazu, finde ich. Dieses Respektieren von Grenzen, Nähe und Distanz, ist ganz wichtig. Und so "zugeknöpft" die älteren Generationen im Umgang mit Körperkontakt waren, um so offener sind es die jüngeren heute. Gerade bei den 15 - 25-Jährigen ist oft nicht einzuordnen, ob die beiden innig Umschlungenen nun ein Pärchen sind, oder die körperliche Nähe "einfach nur so" ist. Hier wird gestreichelt, massiert, in den Arm genommen, den Kopf auf einen Schoß gelegt, wenn man/frau es mag. Ich finde diese Entwicklung schön, solange es dem Gefühl der Einzelnen entspringt, nicht aus einem Peergroup-Zwang heraus. Und wenn sich im Rahmen dessen keine Grenzüberschreitungen ergeben.

    Zum Thema Scham noch ein Wort: Scham ist ja das Gefühl der Verlegenheit, wenn unsere Grenze ohne unser Einverständnis überschritten wurde, oder wir eine (vermeintliche) gesellschaftliche Norm verletzt haben. Die Scham signalisiert eine Grenzüberschreitung. Tiere brauchen keine Scham, weil sie - für dieses Beispiel - die körperliche Abstandsgrenze in der Regel nicht überschreiten, da sie mit negativen Konsequenzen rechnen müssen und gelernt haben, die Signale vorher zu interpretieren. Da könnten wir Menschen uns tatsächlich eine Scheibe abschneiden: Die Interpretation und Beachtung von Körpersignalen! Dann bräuchte sich keiner mehr zu schämen.

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