14. Januar 2012

Die Kritik und Rechtfertigung der Psychoanalyse

Ich selbst mag die Psychoanalyse als Nährboden für Ideen. Sie ist eine Art Literatur: Geschichten werden erzählt und mit Symbolen und Sex aufgeladen. Das ist toll. Außerdem hat mich schon immer Freuds grundsätzliches Problem vom Individuum, das sich an der Gesellschaft und seinen Institutionen einerseits stößt und andererseits in und durch sie gedeiht, interessiert. Kultur versus Natur war auch für Freud das große Thema. Trotz des großen und von Freud bedauerten und bekämpften Konflikts zwischen Es (Natur) und Kultur, war Freud ein Verfechter der Kultur und ihren Fortschritts und nicht etwa ein Romantiker. Das macht mir ihn sympathisch.

Die Psychoanalyse wurde mitunter auch hart kritisiert, gar verspottet. Vladimir Nabokov, wie Freud von Sex fasziniert, ließ keine Gelegenheit aus, die Psychoanalyse eine pseudowissenschaftliche Hermeneutic zu nennen, von der er als Genie sich nicht durch lachhafte Erklärungsversuche entzaubern lassen wollte:
"Lasst die gutgläubigen und vulgären glauben, dass alle mentalen Nöte mit einer täglichen Anwendung von griechischer Mythologie auf die Geschlechtsteile kuriert werden können." (Nabokov, Strong Opinions, New York 1973)

Was aber ist der wissenschaftliche Ursprung der Kritik an der Psychoanalyse? Theodore Millon hat in seiner allumfassenden Geschichte der Psychologie und Psychiatrie Masters of the Mind: Exploring the Story of Mental Illness from Ancient Times to the New Millennium von 2004, die bisher aus unverständlichen Gründen nicht ins Deutsche übersetzt wurde, die Kritik folgendermaßen zusammengefasst:

Immer noch wird die Frage gestellt, ob wissenschaftlichen Konzepte der Psychoanalyse überhaupt auf unbewussten Gegebenheiten gegründet werden können. Psychoanalytische Theorien wurden als unwissenschaftliche Mixturen von metaphorischen Analogien, spekulativen Ideen und hypothetischen Konstrukten bezeichnet, weil die Daten, auf die sie zurückgehen, kaum in der beobachtbaren Welt verankert sind. Zu diesem harten Urteil kommt die Ansicht hinzu, dass die Methoden der Erhebung dieser Informationen sowohl unzuverlässig als auch unpräzise seien. Denn wie könnten Theorien eines unbeobachtbar Unbewussten empirisch verankert sein? Kann man ohne faktische Untermauerung akzeptieren, was der Patient sagt? Sind Patienten unbefangene Beobachter? Sind sie nicht bestrebt, ihrem allwissenden Therapeuten recht zu geben? Sind freie Assoziationen wirklich frei oder bringen Patienten hervor, was ihnen die Therapeuten implizit ohnehin suggerieren?

Solche und viele andere Zweifel wurden gegenüber den subjektiven und methodologisch unkontrollierbaren Prozeduren, die zur Entwicklung der psychoanalytischen Theorien führten, laut. Trotz dieser Kritikpunkte, von denen viele so ähnlich auch auf andere Ansätze zutreffen, mögen psychoanalytische Prozesse ein nötiger Teil für ein umfassendes Verständnis des Geistes sein, besonders, wo es um krankhafte Aspekte geht. Auch wenn diese Prozesse nur sehr schwer gemäß wissenschaftlicher Grundsätze formuliert werden können, kann ihre Existenz nicht geleugnet und ignoriert werden. Die Bemühungen, sie zu erklären, mögen wegen der theoretischen und methodologischen Schwierigkeiten angreifbar sein, aber auf die Untersuchung dieser Vorgänge können wir nicht verzichten.

Neben der Verengung aufs Sexuelle – etwas, das die meisten psychoanalytischen Theorien nach Freud später korrigierten – ist das Hauptargument also, dass die psychoanalytische Forschung nicht experimentell sein kann. Es können keine Labor-Situationen konstruiert werden, wo unter kontrollierbaren Voraussetzungen kausale Zusammenhänge hergestellt werden können. Das ist schon richtig, aber auch irgendwie fade. Wie Millon sagt: Diese Ur-Konflikte, in die wir als Individuen geraten, sind nicht zu leugnen und dass wir dagegen oft genug krankmachende Schutzmechanismen entwickeln, lässt sich auch nicht abstreiten. Diese Erkenntnis ist zu wichtig und ihre Manifestationen zu alltäglich gegenwärtig, als dass man das aus der unbefriedigenden Tatsache heraus ignorieren könnte, dass man es experimentell nicht nachbauen kann. Wenn es dem Verständnis hilft, bin ich dafür, dass wir weiterhin täglich etwas griechische Mythologie auf unsere privaten Körperteile anwenden.



Das passt dazu:

    14 Kommentare:

    1. Irgendwo habe ich mal gelesen, daß vergleichende Studien zwischen den verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren zu der Erkenntnis geführt haben, daß für den Erfolg einer Therapie nicht die angewandte Methode entscheidend ist, sondern einzig und alleine die Beziehung zwischen Patient und Therapeut.

      Das schließt für mich die Brücke zu "unwissenschaftlichen" Methoden der Therapie wie schamanischen Heilungen und dergleichen.
      Interessanterweise konsumiert hier oft der Heiler selbst die Medizin und nicht der Patient.

      Heilt also vielleicht das Bewusstsein sich tatsächlich selbst?

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      1. Wenn der Heiler die Medizin ist, wenn die Beziehung zwischen Patient und Therapeut das Entscheidende am Heilungsvorgang ist, dann heilt sich ja gerade das Bewusstsein n i c h t selbst. Ihre Argumentation, Jan, ist also in sich widersprüchlich.

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    2. Danke, Jan, für den Kommentar. Er weist auch darauf hin, dass Wissenschaftlichkeit und Heilerfolg nicht zwangsläufig korrelieren. Menschheitsgeschichtlich betrachtet jedoch, scheint uns der Fortschritt der Wissenschaftlichkeit in Medizin etc. ein längeres und gesünderes Leben beschert zu haben. Etwas, das mit Schamanismus so nicht funktioniert zu haben schien. Dafür wiederum kann der Schamanismus etwas, dass die Wissenschaft nicht so leicht kann: Sinn und Einheit herstellen. Die Wissenschaft muss sich dauernd - zu recht oder nicht - vorwerfen lassen, das Gegenteil zu tun.

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    3. Ja, das sehe ich auch so.
      Mir geistert aber auch die ketzerische Frage im Kopf herum, welchen anderen Preis wir für unser Leben mit der modernen Wissenschaft (der Medizin) zahlen.
      Vielleicht wird man als Angehöriger eines Naturvolkes mit einem Schamanen nur 50 Jahre alt und als Mitglied der modernen westlichen Gesellschaft 80 Jahre alt.
      Was aber, wenn die 50 Jahre viel intensiver, ausfüllender, schöner, bewusster sind, als die 80 Jahre?

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    4. Gute Frage... aber wenn ich mir vorstelle, dass ich 16 Stunden am Tag (oder wie lange es eben halbwegs hell ist) damit beschäftigt bin, meine Nahrung zu jagen und zu sammeln, Feuerholz zu besorgen und meine Familie gegen Kälte (oder Hitze), Tiere und feindliche Räuber zu beschützen und dann entzündet sich mein Zahn, wenn ich gerade 30, 40 oder 50 geworden bin und quält mich über Wochen, bis ich schließlich an der Entzündung verrecke... dann lebe ich lieber heute und versuche mein Leben abseits der Zahnarztbesuche zu intensivieren, auszufüllen und bewusst schön zu gestalten.

      Denn es ist ja nicht so, dass "Naturvölker" per Definition ein tolles Leben haben (oder je hatten). Im Gegenteil, das war von all der Unbill gezeichnet, die die Natur eben so mit sich bringt. Ein schönes und ausgefülltes Leben zu haben, ist unter solchen Umständen alles andere als selbstverständlich.

      Gleichermaßen ist es heute nicht ausgeschlossen, dass man ein intensives, ausfüllendes, schönes und bewusstes Leben führt. Man muss es eben nur tun.

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    5. Ja und bei genau letzterem hilft es einem ungemein, solche Segnungen wie die der modernen Medizin nie einfach nur so hinzunehmen, sondern sich ihrer Bedeutung bewusst zu sein.

      Man muss aber sowieso mehr differenzieren. Neulich habe ich eine Werbung für irgendein Medikament gesehen, das eine Mutter ihrem Kind gibt, damit es weiter mit den anderen Herumtoben kann. Bei so einer Volksverdummung könnte ich ausflippen. Wenn man krank ist, soll man ruhen, dann geht's in der Regel auch ohne Medikamente. Aber hier wird schon kleinen Kindern beigebracht, wie sie am besten Raubbau an ihrem Körper betreiben...

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      1. Bei allem Respekt finde ich die obige Argumentation, ebenso wie die von Herrn Millon (so weit sie hier auszugsweise wiedergegeben wird) ziemlich haarsträubend. Man räumt ein, dass man der methodologischen Kritik inhaltlich im Grunde genommen nichts entgegenzustezen hat, wischt sie dann aber vom Tisch, mit dem recht schlichten Argument, das, was man untersuchen wolle, eben untersuchen zu müssen. Diese tautologische Argumentation und dieses atemberaubende Beharrungsvermögen findet sich in der psychotherapeutischen Argumentation leider immer wieder. Im Grunde genommen reduziert sie sich letztlich darauf.

        Vor allem: Wenn man meint, etwas aus diesem Grunde untersuchen zu müssen, ist der Untersuchungsgegenstand -in diesem Fall der Patient (oder vornehmer: Klient)- kein Patient, sondern bloßes Objekt des eigenen Wunsches, experimentelle Forschung zu betreiben.

        Im Anschluss an Herrn Millon setzt sich dieser Argumentationsstil fort: Der von Herrn Millon recht gut dargestellten Gegenargumentation wird nach nochmaliger Verkürzung einfach damit begegnet, diese Argumente seien aber "fade".

        Ich frage mich, was eigentlich hinter diesem typisch psychotherapeutischen Argumentationsstil (generell, nicht im Hinblick auf deine Anschlussargumentation,) der zu einer "Lehre" geführt hat, deren Inhalt es ist, immer Recht zu behalten und in dem was man tut unbeschadet jeder Kritik einfach fortfahren und sich dabei als Lehrer der Menschheitsgeschichte fühlen zu dürfen, in Wahrheit eigentlich steckt. Wäre das nicht vielleicht viel eher etwas, das es zu untersuchen gilt?

        Den Antrag, den berechtigten ersten Kommentar von Jan einfach mit einem dialektischen Trick verkürzend umzuinterpretieren, um dann nebulös von etwas abzulenken, dem man nichts entgegensetzen kann, hat Jan ja sehr charmant hingenommen. Einen Erbsenzähler wie mich stört so etwas.

        Da halte ich es doch lieber mit Herrn Nabokov, der mir wahrscheinlich wegen meiner Erbesenzählerei (aber nur wegen dieser)zu recht nicht besonders wohlgesonnen wäre.

        Einem ausgefüllten, schönen, intensiven, bewussten Leben war er vermutlich wesentlich näher als die Kaste jener, die andere zu zwanghafter Selbstbespiegelung anhalten und vor allem jener, die sich von ersteren dazu verführen lassen, statt sich der Realität zuzuwenden.

        Nichts für ungut und sportliche Grüße

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    6. Hallo lieber Leser,

      tut mir Leid, dass ich Ihnen mit der Antwort auf Jans Kommentar nicht Genüge tun konnte. Meinen Sie das: "Irgendwo habe ich mal gelesen, daß vergleichende Studien zwischen den verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren zu der Erkenntnis geführt haben, daß für den Erfolg einer Therapie nicht die angewandte Methode entscheidend ist, sondern einzig und alleine die Beziehung zwischen Patient und Therapeut."

      Stimmt, dem kann ich nicht viel entgegensetzen, denn ich habe das nicht gelesen und kann es nicht überprüfen. Ich kann es mir aber sehr gut vorstellen und würde mich auch gar nicht für die Psychoanalyse in die Bresche schmeißen. Ich muss sie ja nicht verteidigen. Und Millon tut das auch nicht. Im Gegenteil: Er nennt die PA unwissenschaftlich. Pragmatiker hält das nicht davon ab, sie zu nutzen, wenn's denn hilft. What ever works works. Und wenn es Schamanismus ist. Aber, ob es hilft, wann und wem, das vermag ich gar nicht zu sagen.

      Auch ihren erkenntnistheoretischen Bedenken gegenüber der Psychoanalyse kann ich mich anschließen. Von mir aus ist die PA zum Abschuss freigegeben. Ihre kulturgeschichtliche Bedeutung ist aber das, was mich interessiert.

      Waidmanns Heil!

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    7. D'accord. Die kulturgeschichtliche Bedeutung sollte man in der Tat untersuchen. Leider sind wir noch nicht so weit, dass die Psychoanalyse im Staub der Geschichte versunken ist und wir uns auf Fragen nach der kuturgeschichtlichen Bedeutung dieses bizarren Relikts beschränken können.

      Die kulturgeschichtliche Frage, die sich dann stellt, lautet m.E. aber eigentlich eher: Wie konnte so etwas nur möglich sein?

      Einen recht unterhaltsamen Überblick der angeblich naturwissenschaftlichen Gedankenwelt des Herrn Freud gibt es übrigens hier

      http://www.youtube.com/watch?v=H7FiJuSUpvY

      In Wahrheit ist das Ganze natürlich wesentlich ernster, vor allem für jene, die der experimentellen Anwendung der Gedankenwelt ihres jeweiligen Analytikers auf sich selbst -wie immer diese aussehen mag- tatsächlich ausgesetzt sind. Aber Jan formuliert das wieder mal viel eleganter als ich, wenn er feststellt, dass hierbei der Heiler selbst die Medizin konsumiert.

      Da diese Anwendung der Hauptanspruch der Psychoanalyse ist, kann man sich bei ihrer kulturhistorischen Betrachtung leider auch nicht darauf beschränken, diese als philosophischen oder literarischen Entwurf oder als Exempel rhetorischer Tautologienbildung zu betrachten.

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    8. Sie haben Recht: Es muss der Kernpunkt eine Kritik der PA sein, zu sehen, ob sie ihrem "heilenden" Anspruch gerecht wird.

      Haben Sie denn die empirischen Belege, die ihre totale Abneigung rechtfertigen? Oder könnte es sein, dass Sie von einem Fall oder einer bestimmten Menge von Fällen reden, in denen die Analyse furchtbare Konsequenzen hatte? Können Sie tatsächlich mit Sicherheit sagen, dass der Analyse grundsätzlich keine positive (sagen wir: heilende) Relevanz zukommt?

      Selbst kann ich über die medizinische Relevanz nur mutmaßen, dass es Fälle von guter Analyse durch gute Analytiker gegeben haben wird und eben auch schlechte (die ihre eigene Medizin konsumieren). Kann es einem Klienten helfen, zur Analyse zu gehen, über sich selbst zu reflektieren und eigene Antworten auf eigene Probleme zu finden? Ich denke, dass das vorstellbar, ja sogar plausibel ist. Außerdem haben sich jede Menge nicht-dogmatischer Ableger der PA entwickelt, die sich im Alltag zu bewähren scheinen.

      In ehrlicher Neugierde,

      viele Grüße!

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    9. Mit Ihrer Frage greifen Sie einen interessanten kulturgeschichtlichen Aspekt der Psychoanalyse auf: die Frage nach der Beweislast.

      Ist diese nicht eigentlich recht unzweifelhaft dahingehend zu beantworten, dass derjenige, der anderen ein angeblich naturwissenschaftlich kausales Heilverfahren anbietet nicht nur hinsichtlich seines Anspruches auf Bezahlung sondern schon zuvor hinsichtlich seines Ansinnens, überhaupt in dieser Weise tätig werden zu dürfen, einen belastbaren Beweis seiner Methodik und seiner Ergebnisse schuldet?

      Die Psychoanalyse hat sich dieser Voraussetzung entzogen, indem sie das, was bestenfalls experimentelle Forschung war, -zumindest meines Wissens nach- einfach gegen Bezahlung als kausales Heilverfahren betrieb und etablierte (sollte dies historsch falsch sein, korrigieren Sie mich gerne; ich wäre für konkrete Hinweise zu diesem Punkt sehr dankbar).

      Was ist nun die Folge dieser Verletzung gesellschaftlicher Spielregeln? Die Psychoanalyse nutzt den bloßen Umstand ihrer so geschaffenen gesellschaftlichen Etablierung zu einer Umkehr der Beweislast: Es ist nun nicht mehr ihre Aufgabe sich zu rechtfertigen, sondern es ist Aufgabe ihrer Kritiker ihr nachzuweisen, dass ihre Thesen, ihre Methodik und ihre Ergebnisse nicht haltbar und nicht belastbar sind.(Sicher gab es im Zuge legislativer Tätigkeit, etwa im Rahmen des Hickhacks um die Psychotherapierichtline Erörterungen zu dieser Frage. Ob es dabei auch darum geht oder ging, derartige Verfahren grundsätzlich in Frage zu stellen, ist mir nicht bekannt. Aber was mag dann wohl dem Umstand der etablierten Macht der psychotherapeutischen Lobby geschuldet sein?)

      Das besondere Schmankerl an diesem Trick ist: Wenn es sich in Wahrheit gar nicht um ein seriös kausales System handelt, schon gar nicht um ein naturwissenschaftlich kausales, stehen nun die Kritiker vor der Aufgabe, einen Beweis zu führen, der gerade wegen der Fehlerhaftigkeit der psychoanalytischen Theorien gar nicht zu führen ist.

      Der inhaltlichen Tautologie wird sozusagen eine gesellschaftliche hinzugefügt, die ihren Protagonisten -um es einmal salopp zu formulieren- quasi unabsteigbar macht.

      Wenn Sie feststellen, dass Sie über die Relevanz dieser Methodik nur mutmaßen können, befinden Sie sich also in guter Gesellschaft. Etwas anderes als Mutmaßungen bringt meines Wissens nach nicht einmal die psychotherapeutische "Wirksamkeitsforschung" zustande.

      Wie sollen wir so etwas nun gesellschaftlich einordnen? Aus meiner Sicht ist das eine rhetorische Frage. Bezweifeln Sie, dass es Menschen gibt, die durch solche Verfahren geschädigt wurden? Und worauf soll derjenige, der sich das Gegenteil erhofft, setzen? Auf Zufall?

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    10. Ich glaube, die Frage der Beweislast stellt sich gar nicht so sehr. Spätestens sein Karl Popper dürfte klar sein, dass die PA den Kriterien der Wissenschaftlichkeit nicht genügt.

      Es stellt sich vielmehr eine pragmatische Frage: Soll man die Methoden anwenden oder nicht? Wissenschaftlichkeit spielt unter dem pragmatischen Gesichtspunkt der (positiven oder negativen) Wirksamkeit höchstens einen ästhetische Rolle.

      "Bezweifeln Sie, dass es Menschen gibt, die durch solche Verfahren geschädigt wurden? Und worauf soll derjenige, der sich das Gegenteil erhofft, setzen? Auf Zufall?"

      Nein, das bezweifle ich nicht. Aber dieselbe Frage stellt sich bei jeglicher anderen Heilpraxis auch. Menschen werden auch durch Schulmedizin geschädigt. Oder ganz extrem in der Psychiatrie, weil da noch der "Gewinn" der Gesellschaft durch Wegsperren im Vordergrund stand. Aber so lange unterm Strich bei jeglicher Heilpraxis signifikant der Gesundheitsgewinn überwiegt, könnte man argumentieren, dass es vernünftig ist, sie auszuüben.

      Und auf Zufall sollte man da auch nicht vertrauen, sondern zu dem Praktiker gehen, der die beste Erfolgsbilanz hat. Und da gibt es aus den verschiedenen psychoanalytischen Strömungen durchaus Konkurrenz untereinander. Unsere Ärzte suchen wir ja auch nach solchen Kriterien aus.

      Ihre Frage könnte auch umgedreht und gegen Sie gerichtet werden: "Bezweifeln Sie, dass es Menschen gibt, denen durch solche Verfahren geholfen wurde?" Wenn Sie nicht gut begründet "ja" sagen können, dann müssten wir untersuchen, ob aus pragmatischen Gründen davon abzuraten ist, weil kein signifikanter Gesundheitsgewinn belegbar ist und die Schäden überwiegen oder ob die Bilanz positiv ist und deshalb unter näher zu bestimmenden Kriterien eine solche Behandlung zu empfehlen ist. Nur die Homöopathie scheint eine Ausnahme zu sein: Hier gibts offenbar weder eine positive noch eine negative Wirkung (außer auf die Geldbeutel der beteiligten).

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    11. Mit Karl Popper dürfen Sie Analytikern aber nicht kommen. Mir dagegen sehr gerne.

      Ihre pragmatische Argumentation ist mir auch nicht unsympathisch.

      Trotzdem möchte ich diese erst einmal zurückstellen, weil genau diese Art Argumente zu übergehen oder gar nicht erst wahrzuehmen (nicht auf Sie sondern auf die psychotherapeutische Dogmatik bezogen) zu den Problemen geführt hat, die wir heute mit diesem System haben.

      Wenn Sie Karl Popper zum Ausgangspunkt nehmen (oder meinetwegen irgendeinen anderen Wissenschaftstheoretiker, der halbwegs harte Kriterien aufstellt und nicht einfach nur meint, Wissenschaft sei alles, was mit einer wissenschaftlich aussehenden Maschinerie betrieben werde)finde ich Ihre Argumentation nicht konsequent. Denn was ist denn der von dort kommende Vorwurf gegen die Psychoanalyse? Nach Karl Popper ist sie nicht falsifizierbar, nach Grünbaum ist sie sogar falsifiziert, nach den Kriterien, die Sie oben dankenswerter Weise aufgezählt und auch akzeptiert haben ist sie zu unspezifisch.

      Der Punkt ist also gerade der: Ihre Frage, ob ich bezweifele, dass es Menschen gibt, denen solche Verfahren geholfen haben, muss ich danach ganz klar mit Ja! beantworten. Denn wenn mir z.B. Herr Freud oder der Experte mit der guten Erfolgsbilanz erklärt, er habe solche Erfolge durch seine wissenschaftlich kausale Methode herbeigeführt, ist diese Erklärung nichts wert. Es ist eine bloße Behauptung, die ich entweder glauben kann oder nicht, weil ich sie nicht falsifizieren kann, weil ich eine Kausalität der Methode für das Ergebnis nicht feststellen kann und weil im Übrigen sogar das Ergebnis selbst von einem beliebig veränderbaren Wertungs- und Erwartungskatalog abhängig ist, dessen Würdigung zudem maßgeblich von der Verstrickung des Patienten in die "therapeutische Beziehung" beeinflusst ist.

      Da die Methode selbst zudem zu unspezifisch ist, ist sie nicht beliebig reproduzierbar. Sie bietet also -unabhängig von jeder wie auch immer gearteten Erfolgsbilanz- für mich keinerlei Gewähr dafür, dass ihre regelmäßige Anwendung auch bei mir einen regelmäßigen Erfolg erwarten lässt.

      Ist dies aber der Inhalt der wissenschaftstheoretischen Bedenken, sind diese keineswegs nur ästhetischer Art. Sie haben sehr konkrete, sehr handfeste praktische Relevanz für jeden einzelnen etwaigen Patienten.

      Kulturhistorisch stellt sich hier die interessante Frage: Woran liegt es, dass diese recht schwerwiegenden Einwände im Hinblick auf das heute etablierte psychotherapeutische System nicht nur keine Rolle spielen sondern psychotherapeutische Verfahren (insbes. die Psychoanlalyse)sogar im Gegenteil per Dekret als angeblich wissenschaftlich anerkannte Heilmethode gelten?

      Gründe dafür finden wir in dem einzigartigen Beharrungsvermögen psychotherapeutischer Protagonisten gegen jede Art von Gegenargumentation und jeden Versuch, auf gesellschaftlichen Spielregeln zu bestehen, in der Art und Weise, wie vor allem Freud dieses System etabliert hat, in dem Wunsch der Menschen, einfach an einen prophetisch-mystischen Heiler glauben zu w o l l e n und in dem Wunsch des Heilers, dieser Prophet zu s e i n. Ich fürchte nur, dass dieses Paar wesentlich schlechter zueinander passt, als es den Anschein haben könnte.

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