23. März 2014

Eine Philosophie der Ruhe und Gelassenheit

Die großen Gründe für unsere Unruhe und Sorge in der Welt

Der Stoiker kennt seinen Platz im Gefüge der Welt. Er weiß sich dort durch das Einüben emotionaler Selbstbeherrschung einzurichten, sein Los zu akzeptieren und durch Ruhe und Gelassenheit zur Weisheit zu finden. Das klingt sehr antik und ist es auch. Im Kern bleibt es aber auch in unserer überspannten Zeit der Königsweg zu Ruhe und Gelassenheit. Aber wie genau können wir heute diesem Stoizismus im Leben näher kommen? Die Reihe The Philosopher's Guide to Calm hat sich dieser Frage gewidmet und acht (eigentlich sieben)* wesentliche Gründe für Nervosität und Stress in unserer Welt analysiert und daraus einen philosophischen Leitfaden zu einem Leben mit mehr Ruhe und Gelassenheit abgeleitet. Ich habe diesen Leitfaden für Geist und Gegenwart übersetzt und etwas zusammengefasst. Und jetzt bitte alles abschalten und mal ganz entspannt lesen...



Heutzutage wünscht sich fast jeder von uns, ein bisschen ruhiger und gelassener zu sein. Es ist eine der ganz besonderen Sehnsüchte unserer modernen Welt. In der Geschichte bisher haben die Menschen vor allem Abenteuer und Aufregung gesucht, heute aber haben wir meistens viel zu viel davon. Das Verlangen ruhiger und konzentrierter zu leben, hat eine besondere Dringlichkeit bekommen. Wir meinen, dass es acht* wesentliche Gründe für unsere Unruhe gibt. Um zu mehr Ruhe und Gelassenheit zu gelangen, hilft es uns, wenn wir jeden dieser Gründe systematisch betrachten und uns regelmäßig immer wieder damit befassen.

1. Panik vor der Unzulänglichkeit

Ein Großteil unserer Unruhe kommt aus der unrealistischen Erwartungshaltung, wie einfach Erfolg (was auch immer wir genau damit meinen) zu erreichen sei. Mit Schwierigkeiten ist ja gar nicht zu rechnen, alles muss wie am Schnürchen klappen. Die Geschichten, die uns unablässig von Erfolgen im Berufsleben oder dem Glück in Beziehungen berichten, spielen die dunklen Seiten, die Misserfolge, das Unglück in menschlichen Beziehungen herunter. Schnell kann man sich im Vergleich mit diesen Geschichten als miserabel gescheiterte Persönlichkeit empfinden.

Zenon von Kition, Begründer der Stoa (Quelle: Wikipedia)

Wir müssen also die Parameter, an denen wir unser Leben messen, ändern. Wir benötigen dazu im weitesten Sinne bessere Geschichten. Geschichten, die uns ehrlicher von der Normalität der Beziehungen, der Arbeitserfahrungen und unseren menschlichen Ängsten erzählen. Wir benötigen zutreffende Schilderungen der zu erwartenden Unzulänglichkeit unseres Alltags.

Man findet solche Geschichten in guten Filmen, in Romanen und Fotografien. Hier kann man lernen, dass Schwierigkeiten normal sind. Sehr viele völlig respektable Lebenspartner haben lange und heftige Auseinandersetzungen über oft sehr kleine banale Dinge. In einer tollen Beziehung kann man sich gut und gerne zwei Abende pro Woche fragen, was man in dieser Beziehung eigentlich verloren hat. Man kann das gar nicht genug betonen: Zwei schlimme Nächte pro Woche ist schon ein Erfolg.

Schlimme Dinge sind Teil des Lebens und im Laufe des Lebens werden wir immer wieder leiden. Oder wie der französische Philosoph Chamfort im 18. Jahrhundert meinte: "Ein Mann sollte jeden Morgen eine Kröte schlucken, um sichergehen zu können, dass ihm an dem Tag, der vor ihm liegt, nichts Widerlicheres begegnet." Auch in den Religionen geht es nicht umsonst immer wieder um das von Leid gefüllte Leben. Die ganze Jesusgeschichte ist ein Bild dessen. Verlust, Scham, Bedauern, Krankheit und Trauer finden immer wieder ihren Weg in unser Leben. Natürlich müssen wir in allen Einzelfällen auch Hilfe dazu finden. Aber immerhin weisen die Religionen hier auch auf eine fundamentale Voraussetzung für Ruhe und Gelassenheit hin: Das Leid als normal anzuerkennen.

2. Illusion von zu viel Eigenverantwortung

Wir überpersonalisieren, was uns im Leben passiert: Erfolge schreiben wir uns immer gern selbst zu und dann nehmen wir ebenso bereitwillig immer wieder die Schuld für die schlimmen Dinge auf uns, die uns zustoßen. Natürlich fühlt es sich gut an, selbst für seine Erfolge verantwortlich zu sein, die logische Konsequenz daraus, auch für alles Schlimme verantwortlich zu sein, ist hingegen sehr belastend. Die Eingriffe des Zufalls in unser Leben können gütig oder grausam sein, auf jeden Fall sind sie oft wahllos und nicht als persönlicher Angriff oder zielgerichtete Belohnung zu verstehen.

Ein klares Beispiel ist ökonomischer Reichtum, das Geld, das wir besitzen oder an dem es uns mangelt. Natürlich haben wir einen gewissen Einfluss auf unser Bankkonto, aber wir sehen auch, wie viele Menschen völlig unverschuldet alles materielle verlieren, das sie sich zuvor erarbeitet haben. Auch uns kann das passieren und wir haben Bankenpleiten, Staatspleiten und Marktzusammenbrüche nicht unter unserer persönlichen Kontrolle. Das daraus resultierende individuelle Unbill ist zwar sehr real, aber wir können nicht jede Verantwortung dafür auf unsere Schultern laden. Dasselbe gilt übrigens auch umgekehrt: Nicht selten sind superreiche Leute völlig "unverschuldet" zu ihrem "Glück" gekommen.

Tadeusz Kuntze 001
Fortuna, Gemälde von Tadeusz Kuntze 1754 (Wikimedia)

Ein Sinnbild dafür finden wir in der römischen Göttin Fortuna (fortune heißt heute noch in romanischen Sprachen so viel wie Glück und auch Reichtum): Sie kann uns in einem Moment noch Überfluss, Schönheit und Glück schenken und uns schon im nächsten lässt sie uns an einer Fischgräte ersticken, von einem Erdbeben verschlucken oder ein Opfer der Bankenkrise werden. Willkürlich, mit unvorhergesehener Geschwindigkeit und blind gegenüber der einzelnen Person verbreitet sie Glück und Pech nach eigenem Gutdünken. Unser Pech oder Glück ist also nicht immer gerecht, es kann grausam und moralisch völlig bedeutungslos sein.

Unserer Ruhe und Gelassenheit wäre es zuträglich, wenn wir weniger stolz auf unsere Erfolge wären und uns weniger angegriffen und verletzt fühlten durch unsere Misserfolge.

3. Zu viel Optimismus

Ob Optimismus oder Pessimismus im Angesicht der sogenannten Fortschritte der Menschheit in wissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Bereichen die angemessene Haltung ist, bleibt vorerst unklar, so lange es tendenziell immer mehr Menschen besser geht und unser Planet diese Mehrbelastung ächzend erträgt. Die unbestreitbaren Fortschritte haben in uns eine latent optimistische Erwartungshaltung hervorgerufen, der Pessimismus ist keine Option. Wir erwarten geradezu, dass sich der Trend des Fortschritts fortsetzt und auch für uns persönlich nur Gutes bringt. Diese große Erwartungshaltung macht uns verletzlich für eine ebenso große Enttäuschung. Und auch diese anstehende Enttäuschung erahnen wir schon ängstlich. Und so leben wir in einer Spannung zwischen Optimismus und der Angst vor der Enttäuschung unseres Optimismus.

Für eine stoische Ruhe und Gelassenheit ist also ein strategischer Pessimismus die zuträglichere Geisteshaltung. Wir sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass die Dinge meistens schief gehen und viele unserer Träume nicht wahr werden. Ein seichter Pessimismus dämpft überzogene und ungeduldige Erwartungen.

4. Wir wissen nicht, was uns zum Explodieren bringt

Kennen Sie das: eine harmlose Frage ihres Lebenspartners bringt sie absolut auf die Palme oder eine Angewohnheit ihres Kollegen oder die Art und Weise, wie andere Leute sich um sie herum im Straßenverkehr bewegen. Wir wissen eigentlich gar nicht, warum wir so reizbar sind, aber wir können es auch nicht ignorieren. Oft kommt dann die Wut und von Ruhe und Gelassenheit ist keine Rede mehr. Also sollten wir rüber die Gründe unseres Frusts nachdenken.

Denken wir an die harmlose Frage des Lebenspartners: Oft ist solch ein Auslöser nicht der Grund für unsere Wut, sondern ein Moment der dem Auslöser lange vorausging. Wir sollten nachdenken, was zuvor geschehen ist. Gab es Dinge, die der Partner gesagt oder getan hat, die uns missfielen, die wir aber runterschlucken mussten und die sich in uns angestaut haben? Hat unser Partner vielleicht einen Tick, eine Angewohnheit, die uns schon beim bloßen Gedanken daran verärgert? Der Weg zu Ruhe und Gelassenheit geht über die Analyse unserer wunden Punkte. Was regt uns auf und wäre nicht Akzeptanz und Toleranz gegenüber dieser Aufreger die gesündere Herangehensweise?

Sobald wir diese Aufreger erkennen, erschließen wir Wege des Umgangs mit ihnen und wenn es nur eine neue, auf- und abgeklärtere Betrachtungsweise des eigentlichen Problems ist. Denken wir an diese ärgerliche Angewohnheit unseres Lebenspartners und versuchen wir, uns darüber mit Toleranz und Akzeptanz zu erheben und unserem Partner seine Eigenwilligkeit zuzugestehen.

Ruhe und Gelassenheit erreichen wir nicht dadurch, dass wir jeden einzelnen Moment im Leben in eine Meditation verwandeln. Indem wir aber unsere typischen kleinen Aufreger in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen und analysieren, können wir verhindern, dass sich kleine unerkannte Reize zu großen Auslösern wiederkehrender Unruhe und Wut in unserem Leben aufstauen.

5. Kapitalismus und falscher Glamour

Unserem Wirtschaftssystem ist der Gedanke inhärent, dass die besten Dinge des Lebens nicht kostenlos sind. Im Gegenteil: Die Dinge, die wenig kosten, können nicht gut sein und alles wertvolle muss auch viel kosten - und zwar mehr, als wir haben.

Für viele ist das ein großer Grund für Unruhe im Leben: die Sorge, dass man sich das eigene Glück nicht leisten kann. Es ist eine verständliche Angst, die sich jedoch auf eine Unwahrheit gründet. Wir sollten uns lieber immer wieder daran erinnern, dass einfache Dinge uns oft viel mehr geben können, als wir denken. Und damit sind nicht nur immaterielle Dinge gemeint: Schauen wir uns unsere Lieblingstasse oder eine Teekanne an oder einen Strauch, den wir vielleicht gepflanzt haben. Ich habe im Garten meiner Eltern vor zwanzig Jahren eine Buche gepflanzt. Nun ist die Buche ein stattlicher Baum und eine enorme Quelle großen Glücks für mich, wenn ich meine Eltern besuche.

Folgen wir den Medien, dann scheint das gute Leben ständig durch Konsumgüter definiert zu werden, die sich die meisten Menschen dieser Erde nicht werden leisten können. Wenn wir dem Glauben schenken, ist unsere Ruhe und Gelassenheit ständig gefährdet. Wir können uns von dieser konsumistischen Unwahrheit abwenden und unsere Aufmerksamkeit auf die Quellen der Freude richten, die in unserer Reichweite sind. Die Fähigkeit zur Wertschätzung ist der Schlüssel zu Ruhe und Gelassenheit, nicht Konsumkraft.

6. Mangel an Liebenswürdigkeit und Güte

Die Angst vor Erniedrigung und Demütigung ist ein fundamentaler Grund zur Besorgnis in unserem Leben. Diese Angst gründet in unseren Annahmen darüber, wie andere in schwierigen Situation auf uns reagieren werden. Wir fürchten, dass andere gemein und schroff reagieren werden, dass sie uns verspotten oder mit Gleichgültigkeit behandeln werden. Im Grunde gehen wir davon aus, das die anderen Menschen herzlos und gemein sind. Eine Welt, in der die Menschen gütig und liebenswürdig mit einander umgehen, würde keinen Platz für unsere sozialen Ängste und Stressoren lassen.

Die Welt ist aber anders: Wir werden von anderen nach Äußerlichkeiten beurteilt und behandelt. Daher machen wir uns Sorgen über unsere Erscheinung und verlangen nach Statussymbolen. Warum nicht den Spieß umdrehen? Lass sie doch aus ihrer limitierten Perspektive über uns denken, was sie wollen. Sie verspotten andere schließlich nur, weil sie selbst Opfer dieser sozialen Ängste sind. Wir selbst können statt dessen den anderen um uns herum mit Liebenswürdigkeit und Güte begegnen. Wir nehmen damit nicht nur den anderen die Ängste, sondern befreien uns selbst vor dieser eingeschränkten Perspektive aus Erniedrigung, Spott und Gleichgültigkeit.

7. Wir nehmen uns zu wichtig

Die Ereignisse unseres eigenen kleinen Lebens überschatten für uns die gesamte große Welt. In Wirklichkeit sind wir sehr ephemer und völlig abkömmlich. Die Welt würde sich kein bisschen anders drehen, wenn wir selbst nicht da wären. Es kann sehr hilfreich für uns selbst sein, alles mal in eine übergeordnete Perspektive zu setzen. Es kann uns beruhigen, wenn wir immer wieder die Wichtigkeit dessen hinterfragen, das wir gerade tun.

Wenn wir nachts mal einen bewussten und langen Blick hinauf in die Sterne wagen, wird uns klar, wie unbedeutend und vorübergehend unsere eigene Existenz ist. Das muss kein deprimierender Gedanke sein, sonder viel eher ein sehr befreiender: Was immer wir tun, welche Entscheidung wir treffen: Was macht das schon aus? Also sollten wir ruhig den Mut haben, so zu entscheiden, dass es sich für uns selbst richtig anfühlt, ohne immer gleich die ganz großen vermeintlichen Implikationen zu bedenken. Egal wie wir uns entscheiden, der Jupiter wird auch morgen und in tausend Jahren noch auf die Erde hinabscheinen. Außerdem stutzt es auch die vermeintlichen Wichtigkeiten all der anderen um uns herum auf die richtige Größe zurecht und gilt besonders auch für die Büro-Narzissten mit ihren superwichtigen Projekten. Was unseren Boss hier in Berlin, Hamburg, München oder Leipzig zur Weißglut bringen mag, hat keinerlei Relevanz in Kapstadt, Seoul, Santiago de Chile oder Addis Abeba.

Dasselbe gilt für die Betrachtung der zeitlichen, also geschichtlichen Zusammenhänge. Auch in ihnen sind wir als Individuen nahezu belanglos. Die meisten von uns haben nicht mal mehr einen Krieg erlebt. Das Mittelalter mutet an, wie ein anderes Universum, die Antike ist eine tolle Märchenlandschaft und all das zusammen, macht nicht einmal ein Sekündchen der gesamten Stunde der Zeit dieser Welt aus. Bringen uns solche Einordnungen der eigenen Existenz, der Ängste und Sorgen nicht zu mehr Ruhe und Gelassenheit?

Für uns selbst ist unser Leben das Wichtigste überhaupt, im Kontext all der anderen Zusammenhänge ist es ziemlich unbedeutend. Diese Mischung gibt uns die Freiheit und gleichzeitig die Aufforderung, unser Leben nicht zu ängstlich zu gestalten, sondern mutig das eigene Ich zu entfalten.

Wenn wir uns darüber bewusst werden, dass Unzulänglichkeiten und auch Tragödien in unserem Leben zu erwarten sind, dass wir die Gründe für alles, was im Leben schlimmes oder gutes passiert, nicht immer unter Kontrolle haben können und dass wir nicht erwarten können, dass die Dinge kontinuierlich besser werden, dann sind wir auf dem Weg zu Ruhe und Gelassenheit schon sehr weit gekommen. Wenn wir dann noch selbst reflektieren und revidieren, was uns immer wieder aufregt und wir eine gesunde Distanz zu den vermeintlich erstrebenswerten Gütern unserer materialistisch fehlgeleiteten Gesellschaft aufbauen können und statt dessen unseren Mitmenschen im einzelnen mit mehr Güte und Liebenswürdigkeit begegnen und insgesamt die Wichtigkeit des ganzen Hamsterrads infrage stellen können, dann haben wir wie die antiken Stoiker ins Gefüge dieser Welt hinein gefunden, können ruhig und gelassen damit umgehen, ohne uns selbst oder unsere Mitmenschen für das zu verurteilen, das wir im besten Fall sind: Ein kurzes freudiges Aufflackern im ewigen Zeitlauf und im endlosen Raum.



*Im Originaltext wird das zeitliche und das räumliche herstellen von Distanz in zwei verschiedene Strategien aufgeteilt, ich denke aber, dass es eigentlich ein und dieselbe Operation ist und habe es deswegen unter 7. zusammengefasst.

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8 Kommentare:

  1. Dies zu wissen ist das Eine, es zu leben, etwas ganz Anderes. Aber irgendwo fängt man halt immer an. Gut es mal wieder zu lesen.

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  2. Katrin Hentschel26. März 2014 um 21:49

    Ich habe diesen Text sehr gerne gelesen - Herzlichen Dank für diese ehrlichen Worte!

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  3. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  4. Das ist eine schöne Zusammenfassung!

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  5. Ja, der obrige Text spricht mir aus dem Herzen. Es wäre so einfach wie ihn zu lesen, doch ist und bleibt es Schwerstarbeit an deiner Person. Eine tägliche Herausforderung, die man annehmen oder
    auch ablehnen kann.
    Dies zu entscheiden, ist der wahre Kraftakt.
    LG. aus Wien

    Waltraud Aouida
    LG. aus Wien

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  6. Ein schöner und lesenswerter Artikel

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