22. Januar 2017

Die Zukunft: ertragen oder erkämpfen?

Jean-Luc Nancy: Der Mensch ist nur noch eine Frage

Ich beginne mit einer Platitude: Wir leben in einer Zeit der Umbrüche! Wir spüren, dass vieles zu Ende geht, seien es die fossilen Rohstoffe und die Belastbarkeit unseres Planeten, seien es die Demokratien und die soziale Marktwirtschaft, wie wir sie kennen, sei es die Vorherrschaft des Westens und des weißen Mannes oder sei es das Zeitalter der Aufklärung, das es immer nur in einer Tendenz gegeben hat, die sich nun aber immer öfter umzukehren scheint. Die gute Nachricht ist, dass es solche Zeiten immer gegeben hat, zum Beispiel mit dem Ende der Antike, des Römischen Reiches, der Renaissance und des Feudalismus. Die schlechte Nachricht ist, dass solche Umruchzeiten lang genug dauern, um ganzen Generationen das Leben übermäßig schwer zu machen. Ja, sogar die Erkenntnis, dass da etwas Neues angebrochen war, war oft nur einige Generationen später zu haben.

Jean-Luc Nancy, (Foto von Georges Seguin (Okki) - CC BY-SA 3.0)

Heute gibt es – so wie immer auch zuvor – neben den oben genannten pessimistischen Indikatoren auch optimistische oder solche, von denen sich erst herausstellen muss, ob sie für den Großteil der Menschheit positive oder eher negative Folgen bringen werden. Dazu kann man den technischen Fortschritt und insbesondere die Digitalisierung zählen.

"Es begann mit Kant, der als erster sagte, der Lauf der Geschichte sei ein Fortschreiten der Menschheit, zunächst technisch, materiell, aber auch moralisch. Das erscheint uns nun schon länger als völlig hohle und leere Formel... [A]uf der einen Seite geht also der Fortschritt ungebremst weiter, auf der anderen hat uns nicht nur eine Beschleunigung erfasst, sondern eine ganz andere Gangart wird uns vorgegeben. Denn in der Zwischenzeit hat sich die digitale Revolution vollzogen, die fast alle Bereiche berührt, und vor allem in den europäischen Ländern sind wir uns bewusst, dass ein grundlegender Wandel der Kultur, ja der Sprache eingesetzt hat. Das Vertrauen in die großen Erzählungen, die unter dem Namen 'Ideologie' erfasst wurden, ist einem totalen Misstrauen gegenüber den großen Gedankengebäuden gewichen." (Jean-Luc Nancy: Der Mensch ist die Frage: Was ist der Mensch?)

Jean-Luc Nancy, altersweiser französischer Philosoph und Denker ohne Grenzen (z.B. Der Sinn der Welt), diagnostiziert, dass wir uns nicht mehr trauen an das Gute im Fortschritt zu glauben oder an eine segensreiche Globalisierung oder multikulturelle und übernationale Gemeinschaften. Unser gesamtes Denken ändert sich weiter. Konzepte wie Ehe, Sex, Familie oder Religion und Politik verändern sich zwar stetig, aber irgendwie scheint es auch Stoßzeiten zu geben und in so einer leben wir heute.

Was ist der Mensch?

Unsere humanistische Idealvorstellung von Menschsein hat sich soweit erschöpft, dass es heute auf diese Grundfrage der Philosophie für Nancy keine Antwort mehr gibt. Der Mensch sei ein Mensch, nichts weiter. Es gäbe weder einen "himmlischen Beistand", noch einen Idealtypus wie Ideologien ihn entwerfen, noch eine Fortschrittsautomatik. So kommt es, dass auf die Frage "Was ist der Mensch?" nur die meta-tautologische Antwort gibt: "Der Mensch ist die Frage, was ist der Mensch?"

Außer dieser leeren Selbstreferenzialität findet Nancy im Menschen jedoch auch einen "Willen zum Leben". Wir wollen alle lange leben, obwohl nicht fest steht, dass ein längeres Leben auch ein besseres Leben ist. Wir pflanzen uns fort, auch und gerade dort, wo die Umstände hart sind. Ganz selten nur gibt es Menschen, die unter der offensichtlichen metaphysischen Sinnlosigkeit einbrechen und ihr eigenes Leben als so sinnfrei empfinden, dass sie es nicht weiterführen wollen.

"Der Mensch merkt, dass es durchaus einen Wert hat, sich ein wenig Sinn zu geben, selbst wenn er spürt, dass es letztlich keinen endgültigen Sinn gibt." (Jean-Luc Nancy, a.a.O.)

Der Missbrauch und das Versagen der Religionen und bei uns insbesondere des Christentums, den Menschen in einen übergeordneten Sinn einzubetten, hinderten uns daran, "eine neue Form des Geistes und des Spirituellen – die es auf jeden Fall irgendwann geben wird – zu finden. Wir können noch nicht wissen, in welcher Form dieser Geist zum Ausdruck kommen wird – genauso wenig, wie ein Römer des 4. Jahrhundert hätten wissen können, dass das Christentum das spirituelle Ding der Zukunft sein würde." (Jean-Luc Nancy, a.a.O.) Es bliebe uns vorerst nichts anderes übrig, als zu beobachten und die Zeichen der Zeit zu deuten. Aber zu welchem Ziel?

Was bringt die Zukunft?

Das ist das Dilemma bei Jean-Luc Nancy, dass wir die Zukunft nicht kennen und dass sich die Entwicklungen der Geschichte zwar mit übermenschlicher Macht durch unser Leben wälzen, aber gleichzeitig mit einer fast geologischen Langsamkeit, die es uns nicht ermöglicht, einen Sinn darin zu erfassen. Ein bisschen erinnert das an Erdbeben, die schließlich auch durch kaum messbare tektonische Verschiebungen zustande kommen und trotzdem in der Lage sind, ganze Regionen und Gesellschaften auf einen Schlag zu zermalmen.

"Wir leben nun einmal in einer Kultur der Zukunft und plötzlich entdecken wir, dass wir die Zukunft nicht kennen." (Jean-Luc Nancy, a.a.O.)

Was Nancy uns hier in einem klassischen Altersdenken hinterlässt, ist eine post-humanistische Desillusion, die eigentlich nur mit Stoizismus, mit Geduld und Erleiden bewältigt werden kann. Das Individuum zählt im Grunde nicht und es hat nur die Möglichkeit des Erduldens, die wir von antiken Helden wie Odysseus kennen:

"Dieser nimmt das Grundgesetz des Lebens hin, wonach in einer harten Welt der Selbstgenuß die Ausnahme ist und das Leiden die Regel. Das Dulden ist die Bleibe-Arbeit, die der Held erbringt, um durch die ganze Amplitude der Situationen hindurch, klug und belastbar, das zu sein, was die Lage von ihm verlangt, jenseits von Identität und Nichtidentität." (Peter Sloterdijk: Was geschah im 20. Jahrhundert?: Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft, S. 276)

Wie anders sind da die neuen Bestrebungen z.B. der Akzelerationisten, die die Zeit, die aus der Zukunft kommt, bei den Hörnern packen wollen, um das Schlechte und Überlebte zu bezwingen und etwas Gutes und Lebendiges an seine Stelle zu setzen. Die bloße Kontemplation wird uns nicht retten, so viel ist klar. Dann aber wieder: Sind wir noch zu retten?



Das passt dazu:

15 Kommentare:

  1. Umbruchzeiten:
    Mich würde interessieren, wieso sie immer wieder passieren?!
    Es ist aus rückwärtiger Sicht nervend, wenn einmal erworbene Stände einfach so wieder verloren gehen.
    Da scheint ja der Mythos des Sisyphos durch.
    Was sagen denn die Anthropologen und die Geschichtswissenschaftler dazu, die Psychologen und Philosophen?
    Fast erscheint der Mensch als Kannibale an sich selbst.
    Aber vielleicht ist "Sinn" hier einfach eine falsche Kategorie?! Es passiert einfach, was passiert. Es geht seinen Gang.

    Gerhard
    Kopfundgestalt.com

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    1. Die Chinesen haben ein Sprichwort, nachdem die guten Zeiten die sind, in denen nichts passiert ;)

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  2. Es gab mal eine grafische Erklärung zur Evolution, die man im TV vor etwa 25 Jahren ausstrahlte.
    Die Evolution kann wie eine Glockenform (oder ein umgestülpter Topf) angesehen werden: Die Optimierung einer "Tierart" läuft darauf hinaus, ein Optimum zu erreichen, d.h. sie strebt dem Glockenhöhepunkt zu. Kaum hat sie den höchsten Punkt der Glocke erreicht, lässt sie sich wieder zurückfallen und nimmt einen erneuten Anlauf "auf den Platz an der Sonne." Ob das Bild heute noch stimmt, kann ich nicht sagen.

    Gerhard

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    1. Ja, es ist verlockend zu meinen, dass es immer nur aufwärts geht, selbst wenn die Kurve keine 45° Gerade ist, sondern eine sich aufwärts windende mit Ups und Downs, aber in der Tendenz von links unten nach rechts oben. Ich hoffe das auch, aber wenn es keinen Lenker oder keine Gesetzmäßigkeit hinter der Zeit gibt, die einfach nur vergeht, dann ist die Hoffnung dumm.

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  3. Wenn sich Idealvorstellungen (ob das nun humanistische, christliche, spirituelle oder andere sind, ist egal) vom Menschen allmählich erschöpfen, ist das als Befreiung zu verstehen. Der Mensch steigt aus seinen falschen Selbstbildern aus. Was ist dagegen einzuwenden? Warum diese Wehmut, dieses Trauern um etwas, das sowieso bloß Illusion war?

    Welche Wohltat, wenn Mensch nur noch Mensch sein und nicht mehr über sich selbst hinausreichen muss, zumal ihn dieses Über-sich-selbst-Hinausreichen ja zerreißt! Welche Wohltat, wenn man sich mal wieder um sich selber kümmern darf und seine Energie nicht länger an irgendwelche künstlichen Gebilden wie Religionen, Staaten, Kulturen, Ideologien und dgl. verschwenden muss.

    Die Desillusionierung sprengt doch bloß verkrustete Strukturen auf, die dem Menschen das Leben unnötig schwer machen.

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    1. Das ist eine gute Frage, denke ich. Man könnte meinen, "der Mensch" ist auf solche Illusionen oder Geschichten angewiesen, er braucht Ziele, Ideale und künstliche Gebilde, denn die Kultur ist seine Natur.

      Wenn ich "der Mensch" sage, meine ich nicht dich, auch wenn du dazu gehörst. Du kannst, wie jedes Individuum "aus der Art schlagen" und diese Künstlichkeiten nicht benötigen. Außer die "künstlichen Gebilde", die Institutionen, die brauchst du auch, sonst wärst du nämlich schon lange an deiner Freiheit gestorben.

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  4. Da fällt mir ein Spruch aus einem Film ein:

    "Das Leben ist eine Aneinanderreihung von Tagen: Es gibt schlechte Tage und es gibt Tage."

    Jeder Ideologie und Moral widerspricht sich an irgendeinem Punkt eh selbst. Letztendlich trifft man Entscheidungen und lebt damit. Lieber eine Moral mit Kompromissen als kompromisslos unmoralisch ;)

    Der "Umbruch" derzeit scheint aber schon äußerst merkwürdig: Während auf der ganzen Welt Fakten und Wissen leichter erreichbar sind als je zuvor, flüchten sich immer mehr in Gefühle und ideologische Konstrukte von übertriebenen Veganismus zu krankhafter Selbstoptimierung bis hin zu den extremsten Formen von Terrorideologie.
    Irgendwie sind wir dann doch ALLE ein bisschen postfaktisch in der Filterblase. Mir könnten auch zig Wissenschaftler erklären das eine in Steinwolle genmanipulierte Tomate "besser" ist als die vom Hipsterbiobauern ... dennoch würde ich letztere bevorzugen.

    Warum gibt es eigentlich nicht so eine Art "Romantik 2.0"?
    Romantik, die kulturgeschichtliche Epoche ... sie sollte die (sprituelle) Leere der Aufklärung damals dicht machen. Vielleicht brauchen wir sowas heute wieder? Damit nicht immer mehr auf den populistischen TRUMPelpfad gehen und denken GREAT AGAIN!

    Raumfahrt, den Planeten verlassen, andere Planeten kolonialisieren, das wäre mal etwas womit man langfristig Lebensziele generieren könnte. Wenn wir dann noch den ganzen scheiss neoliberalismus los werden. Technolige zum nutzen einsetzen und nicht zur Profitmaximierung ... automatisierte Wertschöpfungsketten und vorrübergehend Grundeinkommen bis zum dem Punkt wo Geld obsolet wird.

    Dieter Nuhr hat ja treffend in seinem Jahresrückblick gesagt: "... das Leben ist nicht groß. Das ist was ziemlich kleines. Man wird geboren, lebt, pflanzt sich vielleicht fort und stirbt irgendwann. Das ist halt einfach nichts großes. War es nie, wird es nie. Das einzusehen und anzuerkennen zeugt von wahrer Größe!"

    Naja, letztlich war, ist und wird alles irgendwie immer bekloppt bleiben.

    Die Antwort auf alles ist eh 42 ;)

    gruß

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    1. Haha, gute Gedanken und Wortspiele...

      Eine Anmerkung zur Romantik: Leider ist das, was wir gerade erleben der Rückfall in eine Romantik oder zumindest der Rückfall in irgend etwas aus romantischen Motiven heraus. Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski sagt, dass die sogenannten Filterblasen deshalb so verlockend sind, weil wir zurück nach Hause wollen. Dorthin, wo es keinen Konflikt gibt, wo alle meiner Meinung sind, wo ich mich nicht hinterfragen muss, sondern bedingungslos von meinen Beschützern geliebt werde. Die Diskursdemokratie ist vor allem eines: Anstrengend und mühsam, darin kann man es sich nicht gemütlich einrichten. Vor dem Hintergrund wird auch erklärlich, warum diese "gemütlichen" Bewohner der Filterblasen so aggressiv postfaktisch werden, wenn einer von außen mit einer anderen Meinung stört: Der bedroht den internen Frieden der Gruppe (z.B. von Verschwörungstheoretikern) und der innere Friede muss aufrecht erhalten werden, selbst mit kriegerischen Mitteln und Wahrheit oder Fakten sind dafür ziemlich unwichtig.

      Aber ich gebe dir Recht, wir brauchen wieder große Erzählungen, die uns zurückbinden an etwas, das wir mehrheitlich für attraktiv halten, auch wenn es "nur Illusionen" sind, wie der fingerphilosoph vielleicht sagen würde.

      Übrigens hielt ich bisher nicht viel von Nuhr, aber dieses Zitat ist sehr sympathisch.

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    2. Ich denke einfach es gibt einen großen Unterschied zwischen dem akzeptieren von Fakten und dem leugnen von Fakten. Mit "Romantik 2.0" denke ich einfach an eine Philosophie, die es ermöglicht, Tatsachen anzuerkennen aber dennoch im gewissen Rahmen nicht dementsprechend handeln zu müssen. Selbstbestimmung, Freier Wille ... eben aber nur in dem Rahmen der anderen keinen Schaden zufügt.

      Wann was "Schaden" ist, das ist halt der ewige gesellschaftliche Konflikt an dem man arbeiten muss. Das fängt ja schon bei Rauchern/Nichtrauchern an und geht weiter bis zum Kruzifix im Klassenzimmer oder dem Burkini im Schwimmbad bei der Grundschulklasse. Was ist Erziehung, was Manipulation?

      Mal eine provokante These: Mal angenommen Rassismus hätte tatsächlich eine wissenschaftlich empirisch belegte Grundlage. Von wegen es gebe tatsächlich verschiedene "Rassen" von Menschen. Bullshit, klar. Aber stellen wir es uns dennoch mal vor ... wäre IRGENDETWAS das im Namen des Rassismus passiert ist dadurch gerechtfertigt? Wenn dem so wäre, inwiefern würde sich dann die Wissenschaft von eine religiösen Ideologie unterscheiden? Letztendlich wäre die Ethik und die Moral die gleiche. Es würden sich nur ein paar Begriffe und Worte ändern.

      Die Fortschrittsfeindlichkeit, dieses ganze Reaktionäre ... irgendwelche kleinkarierte Gauland's (und damit mein nicht nicht nur das Sakko) deren Einstellung eher in die Zeit der Titanic passte und besser mit Ihr untergegangen wäre ... diese PETRY-Schale AFD ... alles einfach nur abstoßend. Heulen immer rum das man "dies und das nicht sagen dürfte..." während die es aber pausenlos von sich geben aber einfach nicht ertragen können wenn andere ihnen widersprechen.

      Diese sog. Akzelerationisten find ich ganz sympathisch. Anstatt das System zu stürzen sollte man es anfeuern damit es sich selbst verbrennt und Platz für neues schafft.



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    3. Ich glaube, in deinem Sinne leben wir sowieso in einer Romantik 2.0. Oder handelst du "nach Tatsachen"? Ich weiß auch, dass das Rauchen wissenschaftlich erwiesen schädlich ist und trotzdem tu ich es hin und wieder.

      Und bei deinem Gedankenspiel zum Rassismus denke ich auch, dass in solch einem Szenario nicht alles, was in dessen Namen geschehen würde, gerechtfertigt wäre. Man könnte ja z.B. etablieren, dass alle Rassen die gleichen Rechte auf Leben, Sicherheit, Glück haben. Oder anders gesagt: Aus empirischen Gegebenheiten kann man nicht ohne Weiteres eine Ethik und damit moralisches Handeln ableiten.

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  5. "Irgendwie sind wir dann doch ALLE ein bisschen postfaktisch "

    Was sind Fakten und Tatsachen? Ist das wirklich so klar?

    Ich will damit nicht die Auswüchse der Realitätsleugner verteidigen, sondern darauf hinweisen, dass die Klarheit darüber, was "die Wahrheit" sei, eher selten ist.

    Klar, wenn A behauptet, B habe bei Veranstaltung X gesagt, dass Schnee krebserregend sei, kann B nachweisen, dass das falsch ist, sofern es eine Aufzeichnung der Rede gibt. Gibt es diese nicht, steigt lediglich mit der Anzahl der Zeugen, die die Aussage NICHT erinnern, die Wahrscheinlichkeit, dass A tatsächlich lügt. Gibt es Zuhörer, die die Aussage bestätigen, ist es hochwahrscheinlich, dass A recht hat, doch könnten die Zuhörer ja auch nachträglich bestochen worden sein.

    Interessant ist hier der Stellenwert der Aufzeichnung, die uns in aller Regel als größter Garant der Wahrheit erscheint. Ich will nicht darauf hinaus, dass Aufzeichnungen auch nachträglich gefälscht werden können, sondern darauf, dass alle Wissenschaft auf Messungen und deren Aufzeichnungen basiert.

    Im Rahmen der Verhandlungen von TTIP wollten die USA/die Konzerne, dass man sich bei Entscheidungen über den Import umstrittener Waren auf die wissenschaftliche Wahrheit einige. Was "Stand der Wissenschaft" ist, solle entscheiden, ob etwas verboten werden darf. (Anwendungsbeispiele: Gensoya, "Chlorhuhn" etc.)

    Mir war das unsympathisch - aus zwei Gründen:

    1)
    zum einen weiß ich, wie Wissenschaft massenhaft manipuliert und missbraucht wird. Die bekannte Floskel "Studien haben ergeben..." sagt aus meiner Erfahrung sehr wenig darüber aus, ob die anschließend folgende Behauptung stimmt. Oft genug ergibt sich aus den Studien sogar das Gegenteil, wenn man nachliest. Noch öfter sind die Studien so angelegt, dass das Ergebnis plausibel erscheint, doch tatsächlich wurde ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang gar nicht bewiesen. Und und und... Ich verfolge das im Ernährungsbereich seit Jahren und glaube Studien "einfach so" gar nichts mehr.

    Will sagen: Aufzeichnungen / Messungen sind erstmal nur Daten. Deren Bewertung ist das Wesentliche, was uns dann als "Information" über die Wirklichkeit übermittelt wird. Wenn wir also das Vertrauen in die Bewerter verloren haben, sieht es schlecht aus für so etwas wie die "intersubjektive Wahrheit", von einer objektiven ganz zu schweigen!

    2)
    Der zweite Grund ist, dass ich es als Anmaßung empfand, eine "wissenschaftliche Wahrheit" ÜBER den parlamentarisch-demokratisch sich heraus kristallisierenden Willen des Wahlvolks zu stellen. Dann können wir doch gleich die politische Macht an Wissenschaftsgremien und Vollzugsalgorithmen abgeben, dacht ich mir, mit leiser Wut im Bauch...

    Dieser zweite Impuls ist jedoch ein sehr zweischneidiges Schwert, denn mit ihm lässt sich dann eigentlich ALLES rechtfertigen: wenn das Volk meint, Andersfarbige sollten nicht arbeiten dürfen (oder Schlimmeres), wäre das ok so. Eine Büchse der Pandora!

    Wir sehen: Was faktisch, was wahr ist, ist immer schon sehr fraglich. Und wie wir damit politisch umgehen sollen auch. (Woran man auch siehr, wie relevant der Stellenwert von Philosophie noch immer ist!)

    Romantik hilft da m.E. nicht weiter.







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    1. Das Problem mit Definitionen von Fakten oder Tatsachen ist, dass sie im besten Fall trivial sind und so keinen Erkenntnisgewinn bringen. Also wenn wir zum Beispiel (um einfach zu bleiben) definieren wollen, dass "ein Fakt das ist, was der Fall ist", was haben wir dann gewonnen? Wenn wir nicht-triviale Definitionen von z.B. Wahrheit nehmen, wie "Wahrheit ist das, worauf sich alle einigen" (Konsenstheorie/Habermas) oder "nur eine Aussage kann wahr sein und sie ist es dann, wenn sie kohärent mit allen anderen Aussagen ist" (Kohärenztheorie/Joachim, Rescher), dann weiß ich auch nicht, ob das praktisch (und außerhalb der Wissenschaftstheorie) weiterhilft.

      Ich würde für Pragmatismus plädieren und sagen, wir haben doch alle ein Verständnis davon, was es heißt, die Wahrheit zu sagen, zu lügen oder etwas zu erfinden. Ist es nicht moralisch geboten, sich im Journalismus an Fakten zu halten und Interpretation oder gar Fiktion als solche kenntlich zu machen? Die Überprüfbarkeit (z.B. durch Aufzeichnung) kann dabei als Gradmesser dienen, für wie verlässlich eine Aussage ist und für wie wahrscheinlich es sich um die Wahrheit handelt.

      Ich meine, das eigentliche Problem ist, dass es zu vielen Menschen egal ist, ob sie selbst die Wahrheit sagen, ob sie belogen werden, ob sie Leuten folgen, die unehrlich mit ihnen sind. Das ist zum Teil ein moralisches Problem und zum anderen Teil ein Problem der eigenen Würde. Es ist unter meiner Würde, Leuten zu folgen, die mich irre führen wollen. Ich lasse mich nicht für dumm verkaufen. Gleichzeitig habe ich den Anspruch an mich selbst, aufrichtig zu sein, das gehört zu meiner Selbstachtung. Dieses Gefühl der Würde und Selbstachtung geht zu vielen Leuten abhanden, weil sie ohnehin das Gefühl haben, dass sie nicht mit Würde und Achtung oder auch einfach nur fair behandelt werden.

      Der Neoliberalismus hat die Menschen versaut, weil er ihnen gezeigt hat, dass es nur um das Recht der Stärkeren (zu denen sie nicht gehören) geht und sonst nichts. Wahrheit oder Fairness spielt da keine Rolle.

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  6. Insofern ist Trump genau das, was die neoliberal gewandelte Welt braucht: Jemanden, der die Ego-Interessen der eigenen Person und im weiteren der Nation an die erste Stelle setzt (Amerika first!) und daraud auch gar kein Hehl macht. Im Spannungsfeld zwischen Konkurrenz und Kooperation ist mit Trump das Maximum auf der Seite "Konkurrenz/Eigeninteresse" erreicht - und nun kann alle Welt sehen, wie das läuft, wie es wirkt, was daraus folgt.

    Vielleicht hilft es ja, mal wieder großformatig umzudenken. "Unterm Strich komm ich" ist ein Rezept für eine Welt, in der alle in Frieden miteinander leben.

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    1. "ist KEIN Rezept" sollte es natürlich heißen!

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    2. Ja, ich hoffe auch genau auf diese Dialektik... Meine Befürchtung ist nur, dass sein zwangsläufiges Scheitern verschwörungstheoretisch umgedeutet werden wird.

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