3. September 2022

Nichts glauben und lieber selbst recherchieren?

Vom Selberdenken und den Tücken der Wahrheitsfindung

"Soll das ein Witz sein? Quantenmechanik –
darüber diskutieren wir hier? Bleiben Sie bei ihren Leisten!"
Walter White zu Saul Goodman in Better Call Saul

Wie das nervt, wenn ich von skeptischen Mitmenschen ermahnt werde, doch bitte nicht so ein Schaf zu sein und alles zu glauben, was mir von "angeblichen" Wissenschaftlern erzählt wird. Hier ein paar Beispiele:


Sie glauben immer noch nicht an Reptiloide unter uns? (Chris Gold, CC BY-NC 2.0)

  • Es gibt keine außerirdischen Reptiloiden unter uns, die aussehen wie Menschen und uns alle steuern? Ja, Reptiloide – das klingt erst einmal nach Fantasy, aber wenn man sich die gut recherchierten Dokumentationen auf YouTube ansehe, dann falle es einem "wie Schuppen von den Augen" (pun intended).
  • Unsere heutigen Klimakatastrophen seien menschengemacht? Ich kennte wohl die Arbeiten des norwegisch-amerikanischen Physikers und Nobelpreisträgers Ivar Giaever nicht? Dieser habe nachgewiesen, dass es keinen Klimanotstand gäbe... 
  • Impfschäden? Übersterblichkeit? Wirkungslose Homöopathie? Diese angeblichen Wissenschaftler sind doch alle von der Pharma-Lobby gekauft. Bist du wirklich so naiv?

Ein von mir geschätzter und intelligenter Freund fing irgendwann an, alle möglichen Verschwörungserzählungen aufzugreifen und auf seiner Website nach dem Motto "man wird ja noch fragen dürfen" zu veröffentlichen. Er war damit sehr erfolgreich, der Traffic auf der Seite explodierte. Und, ja – auch die Reptiloiden (in der Gestalt Angela Merkels) kamen in seinen Artikeln vor! Ich schrieb ihn entgeistert an und meinte u.a.: 

Du hast dich auf die falsche Seite gestellt, auf die der "alternativen Fakten", auf die der Spalter und derer, die andere, weniger intelligente Menschen verwirren. Wenn das ohne böse Absicht passiert und du das aufrichtig glaubst, dann tut mir das leid. Wenn du es absichtlich machst, weil du die Resonanz der ganzen Verwirrten liebst, dann verurteile ich das scharf, das ist Demagogie und es führt weg vom Frieden hin zu einer Aufstachelung gegen die Vernunft. 
Und er antwortete:

Lieber Gilbert,

wenn Du so viele Stunden wie ich und andere recherchiert hättest, dann könntest auch Du Deine Aversion gegen die Wahrheit in der Bühne ablegen. Erst wenn wir erkennen, wie dieses System am Ticken gehalten wird, werden wir in der Lage sein, die 100.000 Toten pro Tag zu vermeiden...

Und es folgte eine Liste an Links zu YouTube-Videos und Artikeln auf dubiosen Websites mit Claims wie "Für Menschen, die denken". Es war 2017 und wir haben lange diskutiert und sind doch nicht mehr zusammengekommen. Nun, in diesem Jahr, hat er seine Website "unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine" eingestellt. Ehrlich – kein Verlust in dieser unendlichen Weite des Nonsens, aka Internet. Ich nehme ihm ab, dass er nichts Böses wollte, sondern eigentlich, genau so wie ich, andere Menschen anregen, selbst zu denken.

Aber wie kommt es zu solchen extremen und absurden Überzeugungen? Es gibt ein großes Misstrauen den etablierten Medien, dem streng wissenschaftlichen Arbeiten und der ständig zwischen Anspruch und Realität eingezwängten Politik gegenüber. Und wer könnte das nicht verstehen? All ihre Vertreter sind "elitär" gebildet, erfahren soziale Anerkennung, bekommen nicht schlecht Geld für ihr Wirken und haben es dennoch bisher nicht hingekriegt, die Welt zu retten. 

Wie gesagt: verständlich. Und Skepsis gegenüber vermeintlichen Wahrheiten ist in jedem Falle angebracht. Nur hilft es der Wahrheitsfindung gar nicht, wenn man seinen Gedanken wenige und sehr dubiose Quellen zugrunde legt, anstatt der in der Breite und nach wissenschaftlichen Standards geprüften etablierten Quellen. Richtig, auch an diesen Quellen kann unmöglich alles immer korrekt und damit wahr sein. Aber diese etablierten Quellen sind eben die beste Grundlage, die wir für eine informierte Diskussion unter Bürgern haben. 

Es ist paradoxer Weise gerade das Qualitätsmerkmal von Wissenschaft, dass sie eingesteht, nur eine im Moment brauchbare Hypothese zu vertreten, die jederzeit durch eine noch brauchbarere Hypothese ersetzt werden sollte. Sich geirrt und dann korrigiert zu haben, ist Teil des Prozesses. Wir finden die entgegengesetzte Attitüde bei denen, die auf YouTube oder sonst wo "selbst recherchiert" haben. Hier ist es immer gleich die ganze und unleugbare Wahrheit und jeder der daran zweifelt ist doof.

Wenn du so viele Stunden wie ich recherchiert hättest...

Selbst zu recherchieren ist unter den heutigen Skeptikern des Mainstreams offenbar das Gebot der Stunde. Aber wo anfangen? Jemand, der im Abi vielleicht Bio Leistungskurs hatte, kann deswegen noch lange nicht selbst das Wirken und die Folgen von mRNA-Impfstoffen am Hamster zu Hause oder gar am Bildschirm auf YouTube erforschen. Auch Klimaforschung ist höchstkomplex, von Astrophysik und Aliens ganz zu schweigen. Der Philosoph Nathan Ballantyne und der Psychologe David Dunning schreiben in Skeptics Say, ‘Do Your Own Research.’ It’s Not That Simple, selbst zu recherchieren, klinge wie ein kluger Rat.

"Ist es nicht immer eine gute Idee, sich zu informieren, bevor man sich zu einem komplexen Thema äußert?

Theoretisch vielleicht. Aber in der Praxis ist die Idee, dass Menschen, die instinktiv skeptisch gegenüber Expertenmeinungen sind, die Themen selbst untersuchen sollten, oft fehlgeleitet. Wie psychologische Studien wiederholt gezeigt haben, werden Anfänger, die ihre eigene Forschung betreiben, bei technischen und komplexen Themen wie Klimawandel und Impfstoffwirksamkeit oft eher irregeführt als informiert – das genaue Gegenteil von dem, was D.Y.O.R.* leisten soll." (*do your own research)
Es ist heute schwer, ein Renaissance-Mensch, ein Universalgenie wie da Vinci oder vielleicht noch Goethe sein zu wollen. Schon Goethe scheiterte, als er versuchte, Newton zu widerlegen. Die heute für Wissenschaft, Klima oder Medizin relevanten Zusammenhänge sind so komplex, dass sie auch ein Leonardo da Vinci nicht in aller Breite und Tiefe zugleich hätte erfassen können. Deswegen gibt es heute eben Spezialisten, die sich jeweils in einer Nische tief auskennen und vielleicht dann noch ein zweites verwandtes Feld beackern. Mehr ist für einzelne Menschen in der heutigen Komplexität nicht mehr drin. 
 
Ist das gut? Nein, das ist schwierig und hat u.a. die Konsequenzen, dass immer weniger zusammengedacht werden kann und dass wir als Nichtspezialisten diese Erkenntnisse oft wenig plausibel und intuitiv verständlich finden. Daraus den Rückschluss zu ziehen und eine einfache, aber fantastische Antwort zu flickschustern und wenige Schuldige für alles Scheitern um uns herum zu finden, ist einfach falsch und führt uns in eine Gesellschaft des gegenseitigen Misstrauens und allgemeiner Verblödung.
"Es sollte keine Schande sein, den Konsens unabhängiger Experten zu akzeptieren und sich auf das zu verlassen, was sie gemeinsam berichten. Als Einzelpersonen sind unsere Fähigkeiten, Informationen angemessen zu überprüfen, lückenhaft." (Nathan Ballantyne, David Dunning: Skeptics Say, ‘Do Your Own Research.’ It’s Not That Simple)

Natürlich soll man sich selbst ein Bild machen und dann auch selbst denken, d.h. die aufgenommenen Informationen in regelbasiertem, stringent-logischem Denken verarbeiten. Es kommt dann eben genau darauf an, woher man seine Informationen bezieht. Und es hat mich schon immer fasziniert, dass die Menschen, die sich für besonders skeptisch und vorsichtig halten, weil sie den etablierten Quellen mistrauen, dann aber obskure Quellen oder gar YouTube Videos für glaubhaft halten. Es fehlt offenbar vielen die Kompetenz, Quellen auf ihre Vertrauenswürdigkeit hin einzuschätzen. Und so schließen auch die Philosophen und Psychologen mit folgendem Rat: 

"Wenn Sie Ihre eigene Recherche durchführen wollen, dann sollten Sie zuerst recherchieren, wie Sie Ihre eigene Recherche am besten durchführen können." (Nathan Ballantyne, David Dunning: Skeptics Say, ‘Do Your Own Research.’ It’s Not That Simple)

Ein guter Rat, finde ich. Wenn auch einfacher gesagt, als getan. Denn so etwas lernt man in einem wissenschaftlichen Masterstudiengang. Aber auch auf YouTube kann man Hilfreiches finden, z.B. die Playlist Wissenschaftliches Arbeiten aus dem Masterseminar "Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis" von Prof. Jan-Hendrik Meier. Das vierte Video heißt "Wissenschaftliche Recherche" – das wäre ein guter Anfang.

Es ist aber auch völlig okay, nicht alles selbst zu recherchieren oder selbst durchzuexperimentieren. Wir müssen lernen zu vertrauen. Klar kann sich ein Mediziner irren, aber dass ich mich auf seinem Feld irre, ist noch viel wahrscheinlicher. Wie gesagt, wir leben in einer spezialisierten Gesellschaft, dahinter kommen wir nicht mehr zurück und niemand kann von jemandem verlangen, alles selbst zu können oder zu wissen. Es ist ja auch selbstverständlich, dass man nicht seine eigene Uhr herstellt, dann noch Schuhe näht, Möbel baut, einen Kühlschrank und den Laptop selbst zusammenbastelt. Mit dem wissenschaftlichen Arbeiten ist das ebenso: Man muss das Handwerkszeug beherrschen, ansonsten kommt man über Stümperei nicht hinaus.


Das passt dazu:

4 Kommentare:

  1. Der Geist von "Paranoia ist das, was die anderen machen, mein Verstehen ist genauso gut wie das von all den Akademikern, wenn nicht gar besser" würde sich schnell verflüchtigen, wenn man Humes Gesetz sowie Nullhypothese beherzigen würde und Abduktionen nicht mit harten Fakten verwechseln würde. Das große "Exit"-Zeichen im Kopfkino sollte aufleuchten mit "Don't judge from ignorance", direkt gefolgt von "Don't confuse the map the territory". Das Sparsamkeitsprinzip kann einem auch lehren, die black box nicht nur in anderen zu vermuten, sondern auch in sich selbst. Das Grundproblem bei Verschwörungsleuten ist, dass sie das "audere" in "sapere aude" ein bisschen zu ernst nehmen. The audicity, the bravery, the courage - gerne verschworen mit reaktionärem Gedankengut über Identiät, die muss und nicht einfach nur optional ist.

    Intellektuell und psychologisch ist das nicht wirklich satisfaktionsfähig - was wiederum das perpetuum mobile von solchen Merkwürden ist, spätestens in sozialer Interaktion. Leute wie David Icke und inzwischen faszinierenderweise auch "Jordan ich verstehe nicht was logos bedeutet Peterson" sind da gute warnende Exempel.

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    1. Vielen Dank für die Ergänzungen. Für mich ist das Sparsamkeitsprinzip tatsächlich auch sehr überzeugend und ich frage mich immer, wie diese "Gläubigen" Erklärungen für plausibel halten können, die ganz große, komplizierte und weitreichende Annahmen erfordern, anstatt einfach das Naheliegende so lange anzunehmen, bis man es widerlegen konnte.

      Es ist alles ganz schön irre in den heutigen Diskussionen.

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    2. Es gibt in der ansonsten recht banalen Serie "Westworld" genau eine gute Szene: Der Maschinenprogrammierer wird an das Sparsamkeitsprinzip erinnert beziehungsweise an Ockhams Rasiermesser und antwortet nur lakonisch: "Wir sprechen die richtigen Worte und schaffen damit Leben selbst. Wilhelm von Ockham war ein Mönch des 14. Jahrhunderts. Dafür hätte er uns auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen."

      Mit anderen Worten: Willkommen im Poststrukturalismus! Vielleicht als kleines Mantra: "Emergenz ist anregend." Sonst vielleicht eher "Datta. Dayadhvam. Damyata."

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  2. Naja, das Warum ist einfach: Intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit wird heute nicht mehr eingefordert und gepflegt. Früher war Stammtisch Stammtisch, heute ist es das Internet. Viele verwechseln die Landkarte mit dem Gelände, weil das Internet aufgrund ihrer Filtersetzungen doch inzwischen ein ganz intelligenter Ort sein sollte. Irgendwo zwischen Projektion und Interpassivität ist die Magie - Nietzsches Abgrund hat heute 16.7 Millionen Farben - actualitas, realitas etc. pp.

    Oder auf gut Deutsch: Wer suchet, der findet. Es gibt auch genügend ordentliche Diskursorte. Das semantische Web mag nicht existieren, das onomasiologische schon. Einfach anders suchen :)

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