22. Juli 2011

Die Chemie in introvertierten Köpfen I

Gestern lag ich 45 Minuten ohne mich zu bewegen in einer Röhre: MRT. Das Kontrastmittel pulsierte durch meine Venen und ich hatte viel Zeit nachzudenken. Die Röhre war eng und machte laute Geräusche, die an Techo-Musik erinnerten. Ich machte die Augen zu und gab mich den Geräuschen und meinen Gedanken hin. Als introvertierter Mensch fällt mir solche an Stimulanz arme Regungslosigkeit nicht schwer. Im Gegenteil: Was andere vielleicht Langeweile nennen würden, ist für mich geistige Regeneration. Warum?


Gehirn aus Gray's Anatomy (Erstauflage von 1858)

Angeboren oder erlernt?
Ich fragte mich, welche physiologischen Ursachen der Introversion zugrunde liegen könnten. Ich bin immer skeptisch, wenn es um angeblich angeborene psychische Dispositionen geht. Blaue Augen und eine krumme Nase sind angeboren. Aber das Verhalten eines Menschen? Das Verhalten hat eben auch wieder Ursachen und diese liegen breit gestreut zwischen physiologisch angeboren und durch die Sozialisation erlernt. Noch komplizierter: Auch hirnphysiologische Merkmale, wie hohe oder niedrige Ausschüttungen bestimmter Neurotransmitter wie Dopamin sind zum Teil vererbt und zum anderen Teil durch Erlebnisse in der Vergangenheit bedingt. Über Zwillingsstudien ist man dazu gekommen, dass die biologische Vererbung zu 39% bis 58% dafür verantwortlich, wie introvertiert oder extravertiert jemand ist.

Dopamin - natürlich high
Die physiologischen Unterschiede scheinen sich zum einen im schon angesprochenen Dopamin-Level und zum anderen in der Durchblutung bestimmter Nervenfasern des Gehirns zu manifestieren. Introvertierte sind sehr empfänglich für Dopamin, benötigen also wenig davon, um stimuliert zu sein. Mit anderen Worten, während extravertierte Persönlichkeiten über äußere Reize (z.B. durch Party feiern) durch Adrenalin die Dopaminproduktion ankurbeln müssen, um überhaupt stimuliert zu sein, genügt bei introvertierten bereits ein niedriger Dopaminspiegel, sie sind innerlich stimuliert und können sich den Zirkus sparen (siehe ich in der MRT-Röhre). Zuviel Dopamin erschöpft die introvertierte Persönlichkeit.

Auf verschlungenen Pfaden
Die in Nervenimpulse umgewandelten Sinnesdaten (z.B. Licht, Töne, Gerüche, Druck) wandern über verschiedene Nervenbahnen durchs Hirn. Bei introvertierten und extravertierten Versuchspersonen hat man beobachtet, dass verschiedener Hirnareale je unterschiedlich durchblutet werden. Bei extravertierten Personen waren emotionale und sensorische Areale stärker durchblutet, bei introvertierten waren es eher prozessuale Areale, die typischerweise für Problemlösung und das Planen verantwortlich sind. Außerdem sind die Wege, die diese Nervenimpulse zurücklegen, bei introvertierten Personen länger und komplizierter. Dieser Umstand könnte dafür verantwortlich sein, dass introvertierte öfter nach Wörtern ringen und in Gruppen nicht so spontan reagieren. Durch die kürzeren und unkomplizierteren Wege im Hirn der extravertierten, haben diese einen besseren Zugriff auf das Kurzzeitgedächtnis.

Sachdienliche Hinweise
Das hier gesagte ist wirklich dünn und nur ein Ansatz. Ich fand es dennoch reizvoll, weil es sich mit meinen Alltagsbeobachtungen deckt. Es ist nicht einfach, etwas verlässliches zu den physiologischen Unterschieden zwischen introvertierten und extravertierten Hirnen zu finden. Das was ich gefunden habe, geht auf ein Buch der Psychotherapeutin Marti Laney zurück: The Introvert Advantage: How to Thrive in an Extrovert World.

Dazu gibt es mehr im zweiten Teil: Die Chemie in introvertierten Köpfen II.

10 Kommentare:

  1. Hallo Gilbert, vielleicht interessiert Dich in diesem Zusammenhang mein Artikel zum Thema Hochsensibilität bzw. die Literaturempfehlungen am Ende.
    Reflexives Denken und Introvertiertheit werden in diesem Zusammenhang auch thematisiert.

    Gruß Jan

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  2. Hallo Jan,

    vielen Dank für diesen Hinweis. In der Tat ein sehr interessanter Artikel. ich habe auch den Test gemacht:

    212 Punkte - "mit an Gewissheit grenzender Sicherheit eine HSP".

    Ich frage mich, in welchem Verhältnis das zu Introversion steht? Ist es dasselbe mit einem anderen Namen? Ist das eine ein Teilaspekt oder "Symptom" des anderen?

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  3. Auf das Testergebnis hätte ich auch gewettet ;-)

    Das ganze ist sehr komplex, ich kann zu dem Aspekt C.G. Jung empfehlen, der auch über "sensitive Introvertierte" schreibt.

    Elaine N. Aron jedenfalls beschreibt, daß es durchaus auch extrovertierte Hochsensible gibt, diese stellen aber ebenfalls wieder eine Minderheit dar.

    Für mich stellt es sich so dar, daß insbesondere reflexives Denken zu dem führt, was man Introvertiertheit nennt. Wer mit reflexivem, unter Umständen noch analytischem Denken beschäftigt ist, der ist notwendigerweise "nach innen" gerichtet, der ist notwendigerweise langsamer in nach "außen gerichteten" Bereichen.

    Neben dem von Dir angesprochenen Hormoncocktail aus Dopamin und Co. wird im Zusammenhang mit Hochsensibilität auch von einer viel feineren Verästelung der Nervenbahnen im Gehirn gesprochen.

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  4. Was war zuerst da, Diagnose oder Befindlichkeit? Pathologie reduziert m.E. auf Eigenschaften, um Dinge - am besten ein für alle Mal - festzulegen. Ich habe ein seltsames Gefühl dabei, wenn wir anfangen, die Klassifizierungs- und Rankingbedürfnisse immer weiter auszudehnen. Statt sich an den feinen Nuancen der Unterschiedlichkeit zu erfreuen, worin nichts anderes zu finden ist, als ein Splitterteil des Ganzen, wird pathologisiert, gemessen, numerisiert und eingeordnet.

    Dorothy Bishop (Oxford Universitiy) postete im Science Blog des Guardian über die Verbreitung von Autismus "Asking how many children have autism is like asking how many children are intelligent." Kategorisierungen entstehen im Unterschied zur "Norm" bzw. zu dem, was eine Gesellschaft innerhalb ihrer Kultur als normal empfindet. Dann wird pathologisiert - und nach Möglichkeit wird sogar versucht, eine physische Ursache zu finden, die man dann in der Folge theoretisch medikamentös oder per Eingriff bei Bedarf verändern kann.

    Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte die Untersuchung, der Sie sich unterzogen haben, nicht kritisieren, ich möchte nur in Frage stellen, wohin das führen soll und hinterfragen, welchen Zweck es am Ende hat. Abgehen davon gruselt es mich bei der Vorstellung "gläserner Patient": Nehmen wir an, bei so einer Untersuchung wird zufällig ein erweiterter dritter Ventrikel diagnostiziert und man erhält prompt den Hinweis auf eine drohende Schizophrenie...

    Noch eins: Die Untersuchung von Gehirnen gehört bestimmt zu einem der spannendsten Dinge eines Neurobiologen und es wurde z.B. lange nach einem Unterschied zwischen den Gehirnen eines Mannes und einer Frau gesucht. Vor gut 100 Jahren erschien des Neurologen Paul Möbius (Möbius-Zeichen, Möbius-Syndrom, Möbiussche Krankheit!) ein unter Ärzten weit verbreitetes Buch "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes". Hier wurde nach den damaligen Regeln der Kunst seziert mit dem Ergebnis, das Gehirn einer weiblichen abendländischen Frau würde mit dem eines Farbigen übereinstimmen, die sich beide deutlich vom Gehirn eines abendländischen Mannes unterscheiden würden. Darauf wäre die geringere Intelligenz von beiden zurückzuführen. Und nicht, dass man nach 100 Jahren damit aufhören würde, nein, der Unterschied zwischen Mann und Frau bleibt weiter beliebter Mittelpunkt medizinischer Forschung. Dem scheinbar zu pathologisierenden Unterschied hält Rafaela von Bredow entgegen, dass alle Untersuchungen darauf abzielen würden, ein gewolltes Klischee aufrecht erhalten zu wollen, und sagt, dass die Signifikanz des Unterschieds pathologisch gar nicht immer so eindeutig ist, wie uns weiß gemacht wird. (s. Spitzer: https://portal.d-nb.de/opac.htm?method=showFullRecord&currentResultId=per%253Dspitzer%2Band%2Bsw%253Dneurobiologie%2526any&currentPosition=2)

    Das war jetzt nicht der Kommentar, zu dem aufgerufen wurde, ich weiß ;-) Aber es war mir ein Bedürfnis zu bedenken zu geben, dass Pathologie eine Diagnose verschlimmern kann statt zu helfen und leider nur allzu wenig von den feinen Unterschieden aufnimmt, wie Sie selbst in Ihrem neuen Beitrag über Hochsensibilität und Introversion geschrieben haben.

    Zum Schluss möchte ich Barbara Sichtermann zitieren (http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1513822/): "Was es bedeutet, immer nur vertikal, von mies bis prima, von down bis top zu urteilen und die Eigenarten einfach wegzubügeln, sich dessen bewusst zu werden - dabei hilft dieser schöne Satz, der Albert Einstein zugeschrieben wird: 'Nicht alles was gezählt werden kann, zählt. Und nicht alles, was zählt, kann gezählt werden.' "

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  5. Schöner Satz, schöner Kommentar, insgesamt. Ich will ihnen gar nicht widersprechen, sondern nur wiederholen, warum ich denke, psychologischen Phänomenen einen Namen (sei es introvertiert oder hochsensibel) zu geben: Ohne passende Begriffe und das damit einhergehende Verständnis, werden Menschen, die sich von der Norm unterscheiden schlicht als "doof", "nicht ganz normal", "Opfer" oder "krank" bezeichnet. Bietet man jedoch einen Namen für das Phänomen an, so öffnet man einen Raum für Verständnis. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Kind einfach als "Zappelphilip" bezeichnet oder eventuell als "hochbegabt" identifiziert wird. Hat man einen Namen für psychische Eigenheiten, dann kann man produktiv damit arbeiten, anstatt zu stigmatisieren. Das Messen ist wieder eine andere Sache. Ich ziehe es vor, semantisch zu beschreiben.

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    1. Das ist der beste Kommentar, den ich in diesem Zusammenhang je gelesen haben. Danke!

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  6. wo in der Berufswelt sind Introvertiere am besten aufgehoben???

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  7. Dort, wo Detailgenauigkeit, Zuhören, Ruhe und Konzentration gefragt sind. Jedenfalls nicht unbedingt in großen hektischen Teams.

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  8. Ich war als Kind immer aufgedreht und ein waschechter Extrovertierter.
    Dann wurde ich traumatisiert und dann begann mein Leben als Introvertierter.

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