29. April 2017

Warum die Identitären falsch liegen

Wir müssen das Spannungsverhältnis "Identität" aushalten

Zum Wesen realer Zivilisationen
gehört der Wille, das Unwahrscheinlichste
in den Rang von Normalität zu erheben.
(Peter Sloterdijk)

In der letzten Zeit und auch jetzt rund um die französischen Wahlen hört man immer wieder von Leuten, die sich "Identitäre" nennen und man könnte denken: Ja, natürlich ist eine Identität wichtig. Nicht nur unsere Individualität, auch eine Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen gehört zur Identität. Ist also nichts zu sagen, gegen diese sogenannten "Identitären"? Parken wir die Frage und schauen uns erst einmal die Spannung zwischen individueller und gesellschaftlicher Identität an.

Der Philosoph Peter Sloterdijk – ein progressiver und liberaler Konservativer – zeigt in seinem Essay "Fast heilige Schrift" anhand des deutschen Grundgesetzes, wie unserem demokratischen Verständnis diese anthropologische Spannung zwischen Ich und Gesellschaft zugrunde liegt und wie gerade darin das Element der politischen Freiheit zu finden ist. Sloterdijk lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass das Grundgesetz mit einem Katalog der menschlichen Grundrechte beginnt, aus dem das erste als Kondensat unseres sich seit der griechischen Antike entwickelnden Humanismus wohl allen geläufig sein dürfte:

17. April 2017

Die zweite Hälfte deines Lebens

Kontemplation oder die Tiefe der Zeit


Der Franziskaner und Autor zur christlichen Mystik (z.B. Pure Präsenz: Sehen lernen wie die Mystiker) Richard Rohr, 74 Jahre alt, beschreibt, wie wir als erwachsene Menschen zwei Hälften des Lebens durchmachen. Die erste Hälfte dreht sich notwendigerweise um das Überleben, mehr noch um das erfolgreiche Überleben. Es ist oft voller Sorge rund um Karriere, Titel, Status und Besitz. Die kognitive Charakteristik dieser Lebensphase bestehe in einem dualen Entweder-Oder-Denken, in einer Herangehensweise des Alles-oder-Nichts. Wir brauchen diese Phase im Leben, aber, so Rohr, diese Lebensweise bringt uns nicht dem näher, was man "Sinn des Lebens" nennen könnte. Sie hat kein Gespür dafür, was die Zeit überdauern wird und was in der zweiten Hälfte des Lebens noch wichtig sein wird.

Rohr warnt davor, die Zeit nur linear zu verstehen. Es gibt keinen zwingenden Grund, dass die zwei Hälften hintereinander gelebt werden müssen. Vielmehr kommt es auf eine Lebensweise an, die für das Platz lässt, was Rohr "Kontemplation" nennt:

12. April 2017

Exzess und Todestrieb

Das merkwürdige Paradox unserer Lebenswut

"Das Ziel alles Lebens ist der Tod."
Sigmund Freud

Es scheint mir so, als gäbe es in jedem von uns nicht nur einen Willen zum Leben, sondern auch einen komplementären Willen zum Tod. Spüren wir ihn nicht – des Schlafes großen Bruder – wenn wir abends zu Bett gehen, um uns vom täglichen Treiben auszuruhen? Wir freuen uns doch auf diese süße Schwere der Dunkelheit, des Nichts. Der Schlaf hat schon immer diese unheimliche Verwandtschaft mit dem Tod, diese zeitweise völlige Kontroll- und Bewusstlosigkeit, der wir uns bereitwillig für ein paar Stunden hingeben, ohne je sicher zu sein, dass wir auch wieder aufwachen werden. Vielleicht kann man beim Einschlafen das Sterben lernen?

Exzess und Tod in Hieronymus Boschs Garten der Lüste (Detail)

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