Auf dem vorläufigen Höhepunkt der westlichen Wirtschaftskrisen und in Verbindung mit Stress und Burnouts sind Lebenskonzepte wie Downshifting, Aussteigen und Minimalismus in Mode gekommen. Die Mainstream-Medien greifen diese Themen auf, Landlust ist beispielsweise eines der erfolgreichsten Magazine in Deutschland und auch bei IKEA findet man den Minimalismus schon im Katalog. Neu sind diese Ideen ja nicht: Henry David Thoreau ist ein frühes Beispiel vom Aussteigen aus der westlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. In der Zwischenzeit waren Aussteiger entweder durchgeknallte und kiffende Hippies, arbeitsscheue Landstreicher oder dem Tod geweihte Natur-Freaks (Christopher McCandless). Nun wird uns immer mehr klar, dass diese Leute vom Rand der Gesellschaft etwas begriffen haben, dass die meisten von uns erst verstehen, wenn sie flach atmend auf dem Bürostuhl zusammensacken und mit Blaulicht davongefahren werden: Es gibt mehr, als Arbeit, Macht und Besitz. Zum Beispiel Zeit, Liebe und Lebensfreude.
Die Legende vom Ausstieg
Also: Arbeit niederlegen und das Leben genießen? Ich glaube nicht, dass das eine Alternative ist, die viele von uns haben. Weltweit betrachtet geht der Trend weiter in Richtung Urbanisierung und Lohnarbeit. Und auch in Deutschland und anderen westlichen Ländern können sich die meisten nicht ganz frei aussuchen, ob sie weniger oder mehr arbeiten. Mich stört an diesen Debatten um das Downshifting und Kürzertreten, dass sie an der Realität der meisten Menschen vorbei gehen. Zum Beispiel las ich im Magazin Elle von einer Anwältin, die irgendwann im Beruf ausbrannte, zusammenbrach und dann entschied, ein anderes Leben zu führen, mehr zu Hause zu sein, zu reisen und sich um die Familie zu kümmern. Anders gesagt: Man muss es sich erst einmal leisten können, einen Gang runter zu schalten. Wer eine Weile so um die Hunderttausend Euro pro Jahr verdient, der kann sicher irgendwann, wenn die Kinder aus dem Haus sind und die Hauskredite abbezahlt sind, runterschalten und halbtags arbeiten. Bei den meisten von uns wird es aber eher so sein, dass sie schön arbeiten gehen, bis sie 67 sind. Denn vorher aussteigen, hieße, nicht so weiter leben zu können, wie man es gewohnt ist. Nun ließe sich leicht sagen, dass man eben auf Dinge verzichten müsse, wenn man weniger Stress will. Aber ist das realistisch? Für viele hieße das, das Haus aufzugeben, in dem sie bereits lange wohnen oder kein Auto mehr zu fahren und dadurch nicht mehr am normalen Leben mit Einkauf, Pfandflaschen wegbringen und der Fahrt zu Freunden teilhaben zu können. Manche von uns können sich erst gar kein Haus oder Auto leisten, sondern bringen gerade so die Miete und das Geld für die Nahrungsmittel auf. Woraus will man da noch aussteigen?
Radikal oder gar nicht
Wohlgemerkt: Ich sage nicht, dass es nicht möglich sei, sondern dass es für die meisten schwer wäre, diesen Weg zu gehen, weil ihre Realitäten aus Zwängen bestehen, die nur noch durch Radikalität zu sprengen sind. Und da sind wir an dem entscheidenden Punkt: Aussteigen und kürzer treten kann nur, wer radikale Entscheidungen treffen kann. Und damit meine ich nicht die Studenten, die plötzlich den Minimalismus für sich entdecken. Das ist zwar lobenswert, aber nicht schwer. Psychologisch schwer und für die meisten praktisch kaum noch zu vertreten, sind solche Veränderungen, wenn man Verantwortung für andere hat. Man muss sich das überlegen, bevor man den ganzen bürgerlichen Quatsch mit Haus und Nachwuchs anfängt. Sind wir erst einmal in einem Lebensumfeld von Karriere, Kindern, Freunden, Besitz und Gewohnheiten, dann wird aussteigen schwer. Denn es hieße, mit seinem Lebensumfeld zu brechen und sich den Zorn und das Unverständnis der Gesellschaft (verlassene Ehepartner, Kinder, Eltern und Freunde) zuzuziehen.
Besetzes Haus im Berlin der 90er Jahre |
Im Berlin der 90er Jahre hatte ich einige Bekannte und Freunde, die sich von Anfang an trauten, einen anderen Weg zu gehen: Mit und ohne Kinder ein Leben ohne viel Lohnarbeit, dafür mit mehr Eingebundensein in Kommunen, Künstlergruppen und besetzte Häuser. Aber auch das ist nicht einfach und nachhaltig für die Einzelnen und erst gar kein Rezept für die Massen. Einzelne werden vorübergehend immer einen individuellen Weg finden können. Dabei gehen sie das Risiko ein, abseits von der Gesellschaft und fern von eigenen Ansprüchen an sich selbst zu scheitern. Andererseits haben sie die Chance, aktiv und bewusst ein außergewöhnliches Leben zu führen. Was ist aber mit uns als Durchschnitt der Gesellschaft? Letztlich zählen wir, denn solange Downshifting oder alternative Lebensformen Randphänomene sind, solange wird sich in unserer Welt nichts ändern.
Welche Alternativen haben wir als Gesellschaft?
Es hilft uns nur ein gesamt-gesellschaftlicher Ansatz. Insofern haben wir Grund zur Hoffnung, denn Ideen wie Minimalismus, das bedingungslose Grundeinkommen, die Diskussionen um Burnout und Depression, die politisch bereits auf den Weg gebrachten Rahmenbedingungen zu Eltern- und flexibler Arbeitszeit, der Bundesfreiwilligendienst und die durch solche Ansätze insgesamt wachsende Akzeptanz von alternativen Lebenskonzepten können langfristig die gesellschaftlichen Normen verändern. Interessant ist, dass sich diese Normen unfreiwillig schon über die kapitalistische Krise relativieren, in der wir uns befinden. Menschen finden gezwungenermaßen zu neuen Konzepten. Wenn Karrieren nicht möglich sind oder der Sex-Appeal von Bankern im Keller ist, dann einigt man sich eben auf andere Werte. Der Papa, der sich statt seiner Karriere nun der Kindererziehung widmet, ist inzwischen ehrbar. Ist doch gut! Vielleicht schaffen wir es, statt der ganzen individualistischen Versuche, zu einem gesamtgesellschaftlichen Minimalismus zu finden. Der bestünde darin, dass wir uns gesellschaftlich nach und nach auf ein paar Prinzipien einigen, die das Sein dem Haben gegenüber erheben. Zum Beispiel könnten wir erkennen, dass Wachstum nur dann wertvoll ist, wenn es nicht auf Kosten anderer und der Natur geschieht. Wir müssten den Zugang zu Ressourcen priorisieren und den Besitz von Ressourcen als Ursache von Verschwendung und Verschmutzung zurückfahren. Zeit, die Mitmenschen und die Welt zu erleben, könnte einen höheren Wert erlangen, als Geld für Konsumgüter zu erwirtschaften.
Das alles sind keine revolutionären oder schwer zu erkennenden Ideen. Sie sind unter uns, überall. Was sind eure Ideen? Wie wollt ihr euer Leben führen? Welche Zwänge gibt es in eurem Leben und wie wollt ihr damit umgehen? Ich freue mich auf eine Diskussion in den Kommentaren!
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