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18. Juli 2025

Über Moderne, Mythos und Maschinen

Was vom Menschen übrig bleibt – Fortschritt, Krise und Selbstverlust

In Zeiten radikalen Wandels – technologisch, ökologisch, existenziell – stellt sich eine alte philosophische Frage mit neuer Dringlichkeit: Was heißt es heute, Mensch zu sein? Dieser Text ist eine intime Reflexion über Fortschritt, Grenzen, das Dazwischen und das Unverfügbare – über das, was uns zu Menschen macht, gerade in dem Moment, in dem wir es aus der Hand geben.

Die englische Originalversion des Textes wurde am 17. 7. 2025 in Xavier Faltots Radioshow Cashmere Talks Zuper Wok #00: Escaping the Dark Hole gelesen. 

9. Juli 2025

Moral für ein neues Mittelalter

Alasdair MacIntyres moralische Orientierung in unübersichtlichen Zeiten

Die Botschaft des kürzlich verstorbenen Philosophen Alasdair MacIntyre hat für viele eine besondere Resonanz – insbesondere für jene, die nach Orientierung inmitten des kulturellen Lärms der Gegenwart suchen.  

Ein Artikel von Christopher Akers

Alasdair MacIntyr, London, March 24, 1992 (Levan Ramishvili, Public Domain)

1. Mai 2025

Im Fleisch der Welt

Maurice Merleau-Ponty und das Dazwischen


Der Todestag von Maurice Merleau-Ponty jährt sich zum 64. Mal. In einer Zeit, die von begrifflichen Auflösungen ("alternative Fakten") einerseits und dem Wunsch nach begrifflicher und auch physischer Abgrenzungen (identitär, LGBTQ, national etc.) andererseits geprägt ist, scheint sein stilles, verbindendes und tiefgründiges Denken verschütt gegangen zu sein. Jedenfalls hört man nichts über dieses Denken und das zu Unrecht. Merleau-Ponty erinnert uns daran, dass das Leben sich nicht an Grenzen hält, sondern im Dazwischen spielt: zwischen Körper und Geist, zwischen Selbst und Welt, zwischen Eigenem und Fremdem, ja sogar zwischen Abgrenzung und Auflösung. Sein Konzept des "Fleisches der Welt" ist eine philosophisch unkonventionelle Perspektive auf die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, die über die klassischen dualistischen Denkmuster hinausgeht und die fundamentale Verbundenheit aller Dinge betont.

 

Ausschnitt aus "Artisten" von Paul Klee, 1915
 

Merleau-Ponty (1908 – 1961) wuchs in einer Epoche politischer Spannungen und intellektueller Umbrüche auf. Der Tod seines Vaters im Ersten Weltkrieg prägte seine Kindheit – eine Erfahrung von Verlust und Unsicherheit, die später auch seine Philosophie der offenen Bedeutungen durchdrang. 

28. April 2024

Trost der Justitz und Perversion der Justiz

Parallelen von Recht und Philosophie

Eine Welt, in der man sich nicht mehr auf Tatsachen und Fakten einigen kann, weil man die Wahrheit lieber seinen Überzeugungen unterordnet, als seine Überzeugungen der Wahrheit unter zu ordnen, ängstigt mich. In so einer Welt gewinnt der Stärkere, der mit dem lautesten Megaphon, der mit den brutalsten Drohungen und nicht der, der im Recht ist.

Auch deswegen liebe ich die Rechtssprechung und kann mir tagelang das Hin-und-her von Argumentationen zwischen Rechtsanwälten, Staatsanwälten und Richtern anhören. Es hat eine beruhigende Wirkung auf mich, so als wenn ich dabei zur Gewissheit komme, dass die Welt doch noch irgendwie im Lot sei. Denn hier zählen Tatsachen! Mit bloßer Überzeugung, Bauchgefühl und Wunschdenken kommt man vor einem unparteiischen Gericht nicht weit. Man braucht überzeugende und allgemeingültige Argumente, um einen Prozess vor Gesetz zu gewinnen. 

Und das Schönste ist, man kann sogar unterschiedlicher Meinung sein und sich trotzdem zivilisiert darüber austauschen. Rechtssprechung ist wie angewandte Philosophie, denn es geht um whare Prämissen, um Logik und Kohärenz von Argumenten, es geht um Beweise und eine präzise Sprache. Besonders beeindruckt mich immer die hypothetische Frage nach dem allgmeinen Prinzip – dieses Werkzeug wird in Philosophie und Recht gleichermaßen genutzt, um Thesen oder Argumente zu prüfen. 

18. November 2023

Sterben lernen #2: Ein Schierlingsbecher voll Hoffnung

Sokrates' Wiederauferstehung

"Der Mensch bringt sein Leben damit zu, daß er lernt, was er wußte..."

So bringt Vladimir Jankélévitch (Der Tod, Suhrkamp, 2017, S. 22) die antike Metapher vom Sterben lernen auf einen paradoxen Punkt. Denn, dass jeder Mensch einmal sterben muss, ist so ein allgemeines Gesetz, dass jeder es wohl weiß. Aber man weiß es als allgemeines Gesetz und man weiß erst einmal nichts darüber, was das genau für einen selbst heißt. "Das Ereignis, das wie kein anderes vorauszusehen ist, ist paradoxerweise das unvorhersehbarste." (Ebd. S. 29) "Erst wenn er in das Nichts zurücksinkt und dem Sein entrissen wird, erfährt der Mensch die Tatsächlichkeit der Veränderung." (Ebd. S. 24) Was ist diese "Tatsächlichkeit der Veränderung"?

Der Tod des Sokrates, Jacques-Louis David, 1787 (gemeinfrei)

Platon schwebt offenbar keine allzu negative Veränderung vor. Wenn Sokrates im Phaidon sagt, dass "die richtig philosophierenden danach [trachten] zu sterben" und wenn er weiter meint, dass "tot zu sein [...] ihnen unter allen Menschen am wenigsten furchtbar" sei, dann ist damit nicht gemeint, dass sich Philosophen besser auf den Tod vorbereiten und durch Weisheit den Tod akzeptieren lernen können. Bei Platons Sokrates ist es eher umgekehrt: Die Philosophen versuchen schon im Leben insofern tot zu sein, als dass sie schon lebend versuchen, die Seele vom Körper zu trennen. "Befreiung und Absonderung der Seele von dem Leibe" sei geradezu "das Geschäft der Philosophen". Sokrates entschied, nicht vor der Hinrichtung zu fliehen, freut sich gar auf den Tod, denn erst im Tod, könne er die Ideen selbst schauen und damit durch und durch philosophisch in Platons Sinne werden:

"Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne daß es freilich die Andern merken, nach gar nichts anderm streben, als nur zu sterben und tot zu sein."

"Auch ziemt es sich ja wohl am besten, daß der, welcher im Begriff ist dorthin zu wandern, nachsinne und sich Bilder mache über die Wanderung dorthin, wie man sie sich wohl zu denken habe. Was könnte einer auch wohl noch weiter tun in der Zeit bis zum Untergang der Sonne!" (Platon: Phaidon, projekt-gutenberg.org 18.11.2023)

5. Oktober 2023

Sterben lernen – #1: Akzeptanz, anstatt Hybris

"Philosophieren heißt sterben lernen", meinte Platon. Ein starker Satz, den wir uns in der Lektion 2 genauer ansehen müssen, denn er flüstert in unsere heutige Ohren einen modernen, existenzialistischen Sinn, der ursprünglich nicht gemeint war. Aber erst einmal: Einfach so dahin leben und irgendwann tot sein? Oder lieber sukkzessive weiser werden und versuchen mit dem Nicht-Sein vor und nach uns, einem erfüllten Sein näher zu kommen? Mir gibt die Endlichkeit viel Freiheit: Was zählen all die kleine Sorgen im Angesicht der Ewigkeit? Und sie motiviert mich, das Beste aus dem zu machen, das mir gegeben wurde (christlich gesagt) oder zu dem ich gezwungen wurde (existenzialistisch gesagt). 

Manche Bäume werden über 500 Jahre alt, und gerade die so genannte Krönung der Schöpfung muss mit 80 abtreten? (Friederike Mayröcker)

18. Februar 2023

Waffen und Moral

Wie wären Panzer und Haubitzen philosophisch zu bewerten?

Eine Zeitenwende ethisch betrachtet

Von einem langen europäischen Frieden verwöhnt, haben wir es uns angewöhnt, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete für verwerflich zu halten, oder ganz kurz gesagt – Waffen überhaupt. Da ist immer auch ein bisschen Kapitalismuskritik dabei und die ist nicht unberechtigt, denn es ist schwer erträglich, dass es Leute gibt, die mit dem Tod eine Menge Profit machen. Ich denke also, dass man es ganz absolut gesehen erst einmal rechtfertigen kann, Waffen generell abzulehnen. Denn gäbe es gar keine Waffen, dann wäre die Welt vermutlich ein besserer Ort. Vor dieser Logik ist jede zusätlich produzierte oder gelieferte Waffe eine mehr, die uns weiter weg von unserem Sehnsuchtsort einer besseren Welt bringt.

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C-17 Globemaster, Ungarn (gemeinfrei, U.S. National Archives)

Nun leben wir in einer Welt, in der absolute Standpunkte, wie beispielsweise gesinnungspazifistische Standpunkte, nicht leicht zu vertreten sind, denn die Wechselwirkungen, in die alles in dieser inzwischen sehr verdichteten Menschenwelt verwoben ist, zeigen jedem Standpunkt Konsequenzen auf, die der den Standpunkt einnehmende nicht wünschen oder manchmal nicht einmal akzeptieren kann. Bleiben wir bei unserem gesinnungspazifistischen Beispiel: In einer Welt, in der "die anderen" Waffen haben und einsetzen, drohen ganz offensichtliche unwünschbare Konsequenzen, wenn man selbst auf seiner friedlichen Insel radikal pazifistisch ist und sich nicht darauf vorbereitet, sich im Ernstfall verteidigen zu können.

1. Oktober 2022

Critical Thinking

Was heißt es, kritisch zu denken?

Wir fordern andere – seltener uns selbst – oft auf, kritisch zu denken. Nur, was bedeutet das eigentlich? Wie können wir kritisch denken? Dieser Artikel bietet einen allgemeinen Überblick darüber, was es heißt, ein kritischer Denker zu sein, und skizziert sowohl traditionelle als auch neuere Ansätze des kritischen Denkens.

Dieser Text der Philosophin Carolina Flores erschien auf 1000-Word Philosophy auf Englisch und kann dort im Original mit Fußnoten gelesen werden.

Wenn "p" und "aus p folgt q" dann "q" (Wikipedia CC BY-SA 4.0)

1. Was ist kritisches Denken?

Allgemein gesprochen besteht kritisches Denken darin, auf sorgfältige Weise zu argumentieren und zu hinterfragen, um die eigenen Überzeugungen auf der Grundlage guter Gründe zu bilden und zu aktualisieren. Ein kritischer Denker ist jemand, der typischerweise auf diese sorgfältige Weise argumentiert und nachfragt, relevante Fähigkeiten beherrscht und die Neigung entwickelt hat, sie anzuwenden.

3. September 2022

Nichts glauben und lieber selbst recherchieren?

Vom Selberdenken und den Tücken der Wahrheitsfindung

"Soll das ein Witz sein? Quantenmechanik –
darüber diskutieren wir hier? Bleiben Sie bei ihren Leisten!"
Walter White zu Saul Goodman in Better Call Saul

Wie das nervt, wenn ich von skeptischen Mitmenschen ermahnt werde, doch bitte nicht so ein Schaf zu sein und alles zu glauben, was mir von "angeblichen" Wissenschaftlern erzählt wird. Hier ein paar Beispiele:


Sie glauben immer noch nicht an Reptiloide unter uns? (Chris Gold, CC BY-NC 2.0)

  • Es gibt keine außerirdischen Reptiloiden unter uns, die aussehen wie Menschen und uns alle steuern? Ja, Reptiloide – das klingt erst einmal nach Fantasy, aber wenn man sich die gut recherchierten Dokumentationen auf YouTube ansehe, dann falle es einem "wie Schuppen von den Augen" (pun intended).
  • Unsere heutigen Klimakatastrophen seien menschengemacht? Ich kennte wohl die Arbeiten des norwegisch-amerikanischen Physikers und Nobelpreisträgers Ivar Giaever nicht? Dieser habe nachgewiesen, dass es keinen Klimanotstand gäbe... 
  • Impfschäden? Übersterblichkeit? Wirkungslose Homöopathie? Diese angeblichen Wissenschaftler sind doch alle von der Pharma-Lobby gekauft. Bist du wirklich so naiv?

23. August 2022

Karma oder Schadenfreude? Zum Tod einer Tochter

Wie ist es moralisch zu bewerten, wenn wir uns diebisch freuen?

Ist es legitim, sich über das Unglück eines anderen Menschen zu freuen? Schadenfreude ist menschlich, so viel ist klar. Aber ist sie nicht auch verwerflich, also aus einer Perspektive der Ethik betrachtet falsch?

Was steckt hinter der Schadenfreude?

Schadenfreude ist die Freude über einen Schaden, der für jemanden anderen eingetreten ist. Eigentlich freut man sich ja nicht über Schäden, die auftreten, sondern über etwas positives, das einem selbst oder anderen widerfährt. Warum kann es also überhaupt Freude über einen Schaden geben? Na offensichtlich, weil man dem anderen eben genau diesen Schaden gewünscht oder nach Möglichkeit sogar selbst zugefügt hätte und weil man meint, dass einem selbst durch den Schaden des anderen etwas Gutes widerfahren sei. Auch ein vereinfachtes und unklares Gerechtigkeitsgefühl kann eine Rolle spielen. Die Freude ist offenbar auch dadurch noch gesteigert, dass der Schaden eingetreten ist, ohne dass man selbst dafür sorgen musste.

Kurz gesagt: Man profitiert vom Schaden eines anderen. Aus ethischer Perspektive kann man also argumentieren, dass die Freude über den eingetretenen Schaden moralisch nicht besser ist, als der Akt des Zufügen eines Schadens selbst. Man könnte vielleicht sogar behaupten, dass die "billige" Schadenfreude des Zuschauers noch perfider ist, als der Akt des Schadenzufügens, denn hier freut man sich ohne eigenes Risiko. Ein interessantes Beispiel, wie die Rechtssprechung von der Moral abweicht, denn egal wie moralisch verwerflich – für Schadenfreude wird man nicht vors Gericht gestellt.

Auch nach den bekannten goldenen Regeln und ethischen Imperativen, nach denen man anderen nichts zufügen oder wünschen solle, dass man nicht auch für alle inklusive sich selbst wünschte, ist Schadenfreude also ganz klar moralisch verwerflich. Einen Ausweg gäbe es, wenn man sich über eine harte Strafe freut, die man sich auch selbst für ein Fehlverhalten wünscht. In religiösen Kontexten kann man das sehen, wenn jemand sündigt und sich erst besser fühlt, nachdem er dafür auch Buße tun konnte. Die Selbstgeißelung wäre solch ein Beispiel. Wer sich über das Auspeitschen eines anderen freut und für alle inklusive sich selbst in Anspruch nimmt, bei vergleichbaren Vergehen auch ausgepeitscht zu werden, der wäre bei dieser Art Schadenfreude fein raus.

9. Juli 2022

Maschinen, denken, Tod

Individuen, fühlen, Leben

Dies ist ein Update zum Artikel Von der Sorge und vom Denken vom 22. Mai 2022. Dort beschrieb ich u.a., wie Hannah Arendt das Denken als eine Art ethischen Imperativ sah, denn das Denken ist Voraussetzung für das gelingende Ringen um richtig oder falsch im Individuum. Wer nicht denkt, kann nicht moralisch fundiert handeln.

Beispielhaft wurde das für sie in der Figur Eichmanns, dessen Prozess in Jerusalem sie begleitete. Hier war ein durchschnittlicher Mensch von normaler Intelligenz, der das Zwiegespräch über richtig und falsch in sich selbst abgebrochen hatte und sich so zu einem gut geölten Rädchen in der Holocaustmaschine der Nazis hat machen lassen. (Von der Sorge und vom Denken)

Apropos Maschine

Die Maschine hat dem Individuum hier das Denken gewissermaßen abgenommen. Sie entlastet, wie Arnold Gehlen sagt, den Menschen vom Denken und das gebiert mitunter grausame Unmenschlichkeiten, wie wir z.B. am Holocaust sehen. 

Auf eine paradoxe Art führt uns das zu einem weiteren Grund, warum das Denken so unpopulär geworden ist. In seiner Vorlesung Einführung in die Systemtheorie (siehe oben: original Tonaufnahme aus dem Wintersemester 1991/92 an der Universität Bielefeld) geht Niklas Luhmann (ungefähr ab Minute 50 in der Aufnahme, siehe Markierung oben im Player) darauf ein, dass das rationale Denken im Westen – obschon im Aufschwung befindlich – spätestens seit und mit der Romantik immer auch deskreditiert wird.

22. Mai 2022

Von der Sorge und vom Denken

Warum ist das Denken so unbeliebt?

Denken hat heutzutage nicht unbedingt den besten Ruf. Lange habe ich mich am Kopf gekratzt, wenn ich mitbekam, dass Menschen um mich herum in Zweifel zogen, dass das "Philosophieren" ein guter Weg wäre, einen Zugang zur Welt und zur eigenen Position in dieser Welt herzustellen.

Zuviel denken macht krank! Solche Aussagen haben mich immer sehr irritiert. Oder: Meditieren, statt denken! Wir müssen im Hier und Jetzt sein. Oder: Nicht immer nur denken, auch mal machen! Das hat sich mir dann schon eher erschlossen, wenn ich auch immer umgekehrt dachte, dass zu viel machen ohne genügend nachgedacht zu haben, das eigentliche Problem sei. Besser verstanden habe ich das Problem bei typischen Fagen wie: Wie kann ich es abstellen, dass meine Gedanken immer so rasen?

Es geht bei all den oben so unbehaglich problematisierten kognitiven Vorgängen gerade nicht ums Denken. Wie soll denn denken, krank machen können? Und gerade beim Denken bin ich doch am ehesten im Hier und Jetzt! Und denken schließt doch das Handeln nicht aus, ist hier vielleicht "zögern" gemeint? Und "rasende Gedanken" ist eigentlich schon das Gegenteil von denken.

13. April 2022

Prekär geborgen in der letzten Kugel

Eine (fast unmögliche) Kurzfassung zu Peter Sloterdijks Sphären Band II von Paul-Heinz Schwan

Globalisierung oder Sphäreopoiese im Größten ist das Grundereignis des europäischen Denkens das seit zweieinhalbtausend Jahren nicht aufhört, Umwälzungen in den Denk- und Lebensverhältnissen der Menschen zu provozieren. (Peter Sloterdijk)

Das Leben – eine runde Sache?

Das Runde, Bergende, Harmonische begeistert. Es zieht uns schnell in seinen Bann. Es fasziniert zunächst und beherrscht dann diejenigen, die so "beherrscht" – heute würde man sagen: geführt – werden möchten. Rundes ist einnehmend, bewegend. Es inspiriert das Gefühl. Es schmeichelt dem Wohlsein. Der runde Tisch, die gesellige Runde. Das runde Lenkrad für die vielen PS. Wir sprechen vom "Runden" wenn wir beruhigen oder verführen wollen. Wir sitzen gesellig an runden Tischen, sind Teil einer illusteren Runde. Wer möchte nicht, dass der Tag, das Projekt, ja sein Leben eine "runde Sache" wird. 

Atlas, der die Welt hält und von 12 Frauen umgeben ist, die die 12 Tierkreiszeichen darstellen (gemeinfrei)

Irgendwie rundet man immer auf oder ab und wenn es nur der Schnaps zum Abschluss der Verhandlungsrunde ist. Sonst fehlt was. Rundungen wirken architektonisch immer. Die Portale einer Kirche und deren Decken sind rund. Wer im Altertum Herrschaft oder Schutz begründen wollte hielt eine Kugel in der Hand oder stand auf einer. In eine Ecke wird man gestellt und bestraft. In die Runde wird aufgenommen, kann die Mitte finden. Alles menschliche Leben beginnt in einer Rundung, in einer "Kugel". Dass wir auch an den Rand einer Rundung geraten können, dass wir auf einer Kugel wohnen die die einzige und letzte sein könnte, dass uns eine Kugel treffen kann, all diese Schrecken sitzen auch tief. Wie kann denn das Bergende auch unser Vernichter werden?

29. März 2022

Wie die US-amerikanische Demokratie (nicht) funktioniert

Ein Interview mit dem Philosophen Jared A. Millson über die Mutter aller Demokratien

Jared A. Millson ist Assistant Professor am Department of Philosophy des Rhodes Colleges. Rhodes ist eine kleine 1848 gegründete Hochschule mit dem Motto "Truth, Loyalty, Service", die immer wieder prominent in diversen Rankings erscheint und unter anderem für den schönsten Campus der USA berühmt ist. Von Millson ist bereits der Artikel Verschwörungstheorien... Warum nicht? auf Geist und Gegenwart erschienen.

Rhodes College: Palmer Hall im sprichwörtlichen Efeu (CC BY-SA 4.0, Washnockm)

16. Januar 2022

Verschwörungstheorien... Warum nicht?

Eine unvoreingenommen philosophische Betrachtung

Die NASA hat die erste Mondlandung vorgetäuscht... Die US-Regierung orchestrierte die Anschläge am 11. September... Eine eingeschworene Gruppe Satan anbetender Pädophiler betreiben einen globalen Kindersexhandelsring und plant ein Komplott...

Mini Mondlandung (Eric Kilby, Lizenz: CC BY-SA 2.0)

Jede dieser Behauptungen wurde als "Verschwörungstheorie" angeprangert. Aber was sind Verschwörungstheorien? Und sollten wir jemals eine akzeptieren? Wenn ja, wann? Auf diese Fragen bietet dieser Essay von Jared Millson, Assistant Professor der Philosophie in Memphis USA erste Antworten.

12. Dezember 2021

Über Misanthropie: Hass und Verachtung reflektiert

Ein Gespräch über enttäuschte und missglückte Menschenliebe

Im Sommer sprach der Journalist Rolf Cantzen mit mir über Negativität, Misanthropie und verwandte Variationen des menschlichen Erlebens. Das Ziel war Cantzens Radio Feature Über Misanthropie: Missglückte Menschenliebe, das schließlich am 5. Dezember im Deutschlandfunk ausgestrahlt wurde.


Im Folgenden kann man das Zweiergespräch als Transkript lesen. Allerdings lege ich jedem ernsthaft ans Herz, sich das gesamte Feature anzuhören, es lohnt sich und ist überraschend komisch.

27. November 2021

Wir sind Plazentatiere und suchen Herbergsschirme

Eine (fast unmögliche) Kurzfassung zu Peter Sloterdijks Sphären Band 1 von Paul-Heinz Schwan

"Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ", vermerkte Goethe einst bescheiden, auf die ich Peter Sloterdijk nach ca. 250 Jahren antworten lasse: "Alle denkenden Säugetiere verfügen über eine Intelligenz, die vage Erinnerungen an den Aufenthalt in einer vollkommenen Sphäre ins Leben mitbringt." Aber was wird aus den Erinnerungen, Herr Sloterdijk, zumal wenn sie vage sind? Seine Philosophie sei spekulativ-realistisch, denn er wolle eine andere Sprache für diese unsagbare-folgenreiche, von der Philosophie bisher übergangene Tatsache finden.

Wir werden als Sphärenexperten geboren. Leonardo Da Vinci: Embriologia (Ausschnitt, gemeinfrei)

Folgen wir ihm mit unserem eigenen Ariadnefaden ausgestattet und fragen mit ihm nach dem Ort der Menschen: Wo sind sie, wenn sie zu Praline und Rotwein greifen, ihre Lieblingsmusik hören, im Kino einen der besten Filme seit langem sehen, wenn sie ein Essen genießen, in das sie sich "hineinlegen könnten", im Urlaub auf einem hohen Gipfel stehen, das Wunder der Geburt erleben? Und was haben sie verloren, wenn ihnen das alles sinnlos erscheint? Wenn sie den Auftrieb verloren haben, gar ein grausames "Nichts" sie fängt, oder wenn die Anderen die Hölle sind? 

9. Oktober 2021

Die Religion des Kapitals

Ein Gastbeitrag von Georg Spoo / agora24

Auf den ersten Blick haben Kapitalismus und Religion kaum etwas gemeinsam. Doch von Ludwig Feuerbach und Karl Marx kann man lernen, wie eng beide miteinander verwandt sind.


Ludwig Feuerbach und Karl Marx
Ludwig Feuerbach und Karl Marx über Religion und Kapitalismus (Bild gemeinfrei)

Ludwig Feuerbach: Der Mensch als Paradoxon und der Ursprung der Religion

Um zu verstehen, warum sich Kapitalismus und Religion so ähnlich sind, muss man zunächst einen näheren Blick auf Feuerbachs Kritik der Religion werfen, die wiederum auf seinem Verständnis des Menschen aufbaut: Der Mensch, so Feuerbach, ist zum einen ein einzelnes und unverwechselbares Individuum mit besonderen Eigenschaften und Merkmalen, das sich von allen anderen Individuen unterscheidet. Er ist zum anderen aber als Mensch immer auch noch mehr als ein einzelnes Individuum, nämlich ein Teil der Menschheit. Mit der Menschheit meint Feuerbach nicht nur die Summe der Individuen, sondern auch die allgemeine Idee des Menschen und des Menschseins. Feuerbach vertritt nun die Auffassung, dass wir uns nicht nur als einzelne Individuen, sondern immer auch unabhängig von unseren individuellen Merkmalen allgemeiner als Menschen überhaupt verstehen. Der Mensch ist in gewisser Weise ein Wesen, das zwischen sich selbst als Individuum und der Menschheit, deren Teil er ist, aufgespalten ist. Der Mensch ist, in Feuerbachs Worten, sowohl Einzelwesen als auch Gattungswesen. Diese Spaltung macht unser Menschsein wesentlich aus: Wir können uns als Einzelwesen ganz auf unsere Innenperspektive und unser Eigeninteresse zurückziehen und uns von der Menschheit abwenden. Wir können als Gattungswesen aber auch über uns hinauswachsen, von uns absehen und uns als Teil von etwas Größerem verstehen. Als Menschen sind wir aufgespannt zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen dem Verbleiben im Innenraum unserer Einzelexistenz und dessen Überschreiten hin zum Außenraum unserer Gattungsexistenz.

21. März 2021

Das unglückliche Bewusstsein

Zur Überwindung oder Akzeptanz, ein Mensch zu sein

Philosophie, besonders die deutsche ab der Aufklärung muss sich oft vorwerfen lassen, kaum lesbar zu sein und zunehmend weniger praktische Relevanz für das Leben des Einzelnen zu haben. Auch wenn der erste Teil der Kritik stimmt und Philosophen wie Kant, Schelling oder Hegel heute kaum noch lesbar sind, ist der zweite Vorwurf falsch. Man muss doch nur solche philosophisch zentralen Begriffe wie Hegels "unglückliche Bewusstsein" hören und unweigerlich fragt man sich, ob sich darin nicht Erklärungsmöglichkeiten des eigenen Lebens, das immer auch Leiden ist, verbergen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel von Gustav Blaeser, Hegelplatz, Berlin-Mitte (Daderot)

21. Februar 2021

Drogen – Extase und Vernunft

Die Sucht nach Inexistenz, erste und zweite Philosophie

Ich würde mich einen Menschen der vorsichtigen Ekstase nennen, einen, der gern mal Grenzbereiche auslotet, mindestens ausleuchtet. Eines meiner Lieblingsbücher in der Adolesenz war Die Pforten der Wahrnehmung. Himmel und Hölle. Erfahrungen mit Drogen von Aldous Huxley. Seit seiner Lektüre stellte ich mir die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass der Drogenrausch kein Mittel der außerordentlichen Erkenntnis mehr ist, sondern zu einem Alltagsphänomen wurde. Ich stelle mir immer vor, dass der Rausch für vormoderne Völker viel wichtiger gewesen sein muss als für uns. Zugleich wichtiger und auch eingeschränkter. Der Rausch wird nur in zeremoniellen Momenten und für wenige Repräsentanten verfügbar gewesen sein, zum Beispiel Schamanen oder Stammesangehörige an einem ganz bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben. Heute ist es umgekehrt: Wie in Huxleys Schöne Neue Welt und seiner Droge Soma gehört der Rausch in Form von Alkohol und anderen Drogen einfach dazu. Rausch ist täglich verfügbar und gehört mindestens am Wochenende zum guten Ton. Damit einher geht natürlich eine Entwertung, eine Vulgarisierung: Bis auf den gesundheitsgefährdenden Zeitvertreib bedeutet der Drogenkonsum heute nichts mehr. Oder?

Natürlich bedeuten alle Dinge mehr, als man ihnen auf Anhieb ansieht, was ja der Grund der philosophischen Neugierde ist. Die Frage nach dem Rausch geht interessanterweise einher mit der Frage nach der Philosophie überhaupt, denn anfangs sind Philosophie und Rausch gar nicht von einander zu trennen.

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