9. Oktober 2021

Die Religion des Kapitals

Ein Gastbeitrag von Georg Spoo / agora24

Auf den ersten Blick haben Kapitalismus und Religion kaum etwas gemeinsam. Doch von Ludwig Feuerbach und Karl Marx kann man lernen, wie eng beide miteinander verwandt sind.


Ludwig Feuerbach und Karl Marx
Ludwig Feuerbach und Karl Marx über Religion und Kapitalismus (Bild gemeinfrei)

Ludwig Feuerbach: Der Mensch als Paradoxon und der Ursprung der Religion

Um zu verstehen, warum sich Kapitalismus und Religion so ähnlich sind, muss man zunächst einen näheren Blick auf Feuerbachs Kritik der Religion werfen, die wiederum auf seinem Verständnis des Menschen aufbaut: Der Mensch, so Feuerbach, ist zum einen ein einzelnes und unverwechselbares Individuum mit besonderen Eigenschaften und Merkmalen, das sich von allen anderen Individuen unterscheidet. Er ist zum anderen aber als Mensch immer auch noch mehr als ein einzelnes Individuum, nämlich ein Teil der Menschheit. Mit der Menschheit meint Feuerbach nicht nur die Summe der Individuen, sondern auch die allgemeine Idee des Menschen und des Menschseins. Feuerbach vertritt nun die Auffassung, dass wir uns nicht nur als einzelne Individuen, sondern immer auch unabhängig von unseren individuellen Merkmalen allgemeiner als Menschen überhaupt verstehen. Der Mensch ist in gewisser Weise ein Wesen, das zwischen sich selbst als Individuum und der Menschheit, deren Teil er ist, aufgespalten ist. Der Mensch ist, in Feuerbachs Worten, sowohl Einzelwesen als auch Gattungswesen. Diese Spaltung macht unser Menschsein wesentlich aus: Wir können uns als Einzelwesen ganz auf unsere Innenperspektive und unser Eigeninteresse zurückziehen und uns von der Menschheit abwenden. Wir können als Gattungswesen aber auch über uns hinauswachsen, von uns absehen und uns als Teil von etwas Größerem verstehen. Als Menschen sind wir aufgespannt zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen dem Verbleiben im Innenraum unserer Einzelexistenz und dessen Überschreiten hin zum Außenraum unserer Gattungsexistenz.

In dieser Paradoxie, in dieser Spaltung liegt für Feuerbach nicht nur der Grund unseres Menschseins, sondern zugleich auch der Ursprung der Religion: Die Religion entsteht durch das Missverständnis, dass das, was unsere Einzelexistenz übersteigt, etwas anderes als der Mensch sei, nämlich Gott – und nicht, als Gattungswesen, der Mensch selbst. In der Religion entfremdet sich der Mensch daher von sich selbst: Darin, dass wir von uns absehen und uns überschreiten können, liegt die Ursache, dass wir die uns übersteigende Gattungsexistenz als Transzendenz Gottes auffassen. Die Selbstüberschreitung ist in unserer paradoxen menschlichen Existenz angelegt. Sie führt in der Religion aber nicht zur Menschheit und mit ihr zu uns selbst zurück, sondern sie führt mit Gott auf etwas anderes, das wir nicht sind, und kehrt von dort auch nicht mehr zurück; sie bleibt uns fremd und jenseitig. Die Religion ist daher eine Selbstentfremdung des Menschen.

Atheist*innen wird manchmal vorgeworfen, einer sündhaften und perversen Selbstvergottung des Menschen das Wort zu reden. Feuerbachs Kritik der Religion zielt aber nicht darauf ab, das im Grunde positive Phänomen der Transzendenz zu vernichten und in der sinnentleerten und hoffnungslosen Immanenz eines egoistischen Daseins aufzulösen. Denn ein selbstsüchtiger Individualismus ist nicht das Gegenteil, sondern vielmehr die unvermeidliche Kehrseite des Selbstverlusts des Menschen in Gott. Demnach ist nicht die Kritik an der Religion, sondern die Religion selbst die Perversion des menschlichen Wesens. Das wahrhaftige Gegenteil des Glaubens an Gott ist folglich, dass sich der Mensch in der Transzendenz selbst erkennt und den Sinn seiner Existenz nicht bei sich allein, sondern bei sich als Teil der Menschheit verortet.

Karl Marx: Kapitalismus als Religion

Auch Marx’ Kritik des Kapitalismus beruht darauf, dass der Mensch eine gespaltene Existenz führt. Feuerbachs Idee von einer allgemeinen Menschheit, zu der alle Menschen gleichermaßen gehören würden, ist für Marx allerdings ein leerer und abstrakter Gedanke: Er gehe an der Wirklichkeit des Kapitalismus vorbei und werde deshalb schnell zu einer naiven oder heuchlerischen Ideologie, mit der die tatsächliche Ungleichheit und das Unrecht menschlicher Gesellschaften verdeckt würden. Marx’ Hauptinteresse gilt daher nicht einer vagen Idee der Menschheit, sondern der Wirklichkeit der Menschheit. Diese Wirklichkeit besteht für Marx in den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sich die Menschen als einzelne Individuen überschreiten und miteinander in Beziehung setzen, sodass sie nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Existenz führen.

Diese Spaltung zwischen der individuellen und der gesellschaftlichen Existenz macht für Marx allerdings nicht das Wesen des Menschen, sondern das Wesen des Kapitalismus aus: Im Kapitalismus werden Güter von individuellen Produzent*innen, von Unternehmen, produziert, unabhängig von allen anderen Produzent*innen. Erst auf dem Markt setzen sich die individuellen Einzelproduzent*innen in ein Verhältnis zueinander, indem sie ihre Waren miteinander austauschen. Der Markt ist somit der Ort, an dem die Individuen ihre Einzelexistenz überschreiten und zu einem Teil der Gesellschaft werden. Allerdings wird das Verhältnis der Menschen auf dem Markt zu einem Verhältnis von ihren Produkten, von Waren, die, vermittelt durch das Geld, miteinander getauscht werden. Erst durch den Verkauf der produzierten Waren auf dem Markt zeigt sich, ob mit diesen Waren Profit erwirtschaftet werden konnte. Im Kapitalismus sind nicht die Produkte der eigentliche Zweck des Arbeits- und Tauschprozesses, sondern die Vermehrung oder, wie Marx es nennt, die Akkumulation von Kapital. 

Der Tausch von Waren wird zur Akkumulation von Kapital, wenn das ursprünglich investierte Geld nach dem Arbeits- und Tauschprozess vermehrt werden konnte. Die Akkumulation von Kapital zielt nicht auf konkrete Produkte oder die Befriedigung von Bedürfnissen ab, sondern auf die weitere Akkumulation von Kapital. Sie ist Selbstzweck und deshalb per se maßlos: Im Kapitalismus verliert die Selbstüberschreitung des Menschen ihren Boden und ihren Halt, weil sie nicht mehr auf andere Menschen gerichtet ist, sondern auf Waren und mit ihnen auf die Akkumulation von Kapital als maßlosem Selbstzweck. Sie führt deshalb wie von selbst in einen unendlichen Wachstums-, Produktions- und Konsumzwang hinein, der die gesellschaftlichen und ökologischen Grenzen unserer endlichen Existenz sprengt und dadurch die Grundlagen unseres Daseins untergräbt. 

Die Menschen stehen in einem umfassenden Konkurrenzverhältnis zueinander und durch die Produktion von Waren mit dem Zweck der Profitmaximierung erzeugen sie ständig neue Markt- und Sachzwänge, die ihnen wie natürliche Gesetze, wie eine fremde Macht gegenüberstehen, obwohl sie diese selbst erzeugt haben. Diese Verselbstständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse bezeichnet Marx mit einer religiösen Metapher als den "Fetischcharakter der Ware". In der "Nebelregion der religiösen Welt", so Marx weiter, "scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand."

In der Religion ist die Selbstverwirklichung des Menschen blockiert, weil die Selbstüberschreitung des Individuums nicht zur Menschheit, sondern zu Gott und somit zur Selbstentfremdung des Menschen führt. Laut Marx ist es im Kapitalismus genauso: Die Selbstverwirklichung des Menschen ist blockiert, weil die Selbstüberschreitung der Individuen in ihrem gesellschaftlichen Verhältnis zu einem Verhältnis von Dingen wird, deren Zweck nicht in der menschlichen Gesellschaft liegt, sondern in der Akkumulation von Kapital. So wie in der Religion der Glaube an Gott an die Stelle der Idee der Menschheit tritt, nimmt das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen im Kapitalismus die Form der Herrschaft des Kapitals an. Wie für Feuerbach die Religion, so ist für Marx der Kapitalismus eine Perversion: Anstatt dass sich der Mensch in der Gesellschaft als Gemeinwesen verwirklicht, dient die Marktgesellschaft der permanenten Profitmaximierung des privaten Individuums. 

Kritik des Himmels: Kommunismus

Mit Marx kann man daher sagen, dass die aufgeklärte liberale Marktgesellschaft des Kapitalismus die Religion gar nicht abgeschafft, sondern auf eine perfide und unsichtbare Weise verwirklicht hat. Die Kritik der Religion ist nach Marx daher nur dann konsequent, wenn sie zur Kritik des Kapitalismus radikalisiert wird: "Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde". Um die religiöse Entfremdung abzuschaffen, muss folglich auch die kapitalistische Entfremdung abgeschafft werden:

"Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen."

Bei Feuerbach und Marx soll die Kritik der Religion und des Kapitalismus das menschliche Streben nach Transzendenz nicht unterbinden, sondern auf dessen ursprünglich humanistisches und emanzipatorisches Ziel lenken. Die Kritik richtet sich allein gegen die Perversion dieses menschlichen Strebens in der Sehnsucht nach Gott oder in der unendlichen Akkumulation von Kapital. Demgegenüber besteht das Ziel der Selbstüberschreitung der Einzelnen, so Marx, in der "Verbindung des Menschen mit dem Menschen" in der "menschlichen Gesellschaft oder der gesellschaftlichen Menschheit"; mit anderen Worten: in der humanen Existenzweise einer solidarischen Gesellschaft. Marx hat eine solche Gesellschaft als Kommunismus bezeichnet. 

Im Kommunismus überwindet der Mensch seine einseitige Existenz als vereinzeltes Individuum, weil er das Ziel seiner Selbstüberschreitung nicht in der bodenlosen Unendlichkeit der Kapitalakkumulation verliert, sondern im anderen Menschen, in der menschlichen Gesellschaft erreicht und sich dadurch erstmals als gesellschaftliches Individuum realisiert. Die zwei Seiten des Menschen als individuelles und gesellschaftliches Wesen sind hier deckungsgleich, die Freiheit des*der Einzelnen ist die Bedingung der Freiheit aller und die Freiheit aller Bedingung der Freiheit des*der Einzelnen. Erst im Kommunismus gelangt der Mensch demnach zu seiner höchsten und eigentlichen Existenzform. Marx reformuliert die religiöse Sehnsucht zur utopischen Hoffnung, dass, wo Gott und Kapital sind, der Mensch werden soll:

"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."

Diese fundamentale Kritik von Marx am Kapitalismus sollte sich vor Augen halten, wer die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisieren, wer etwas gegen Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung tun will. Denn sollte Marx richtig liegen, dann gibt es keinen "guten" oder "grünen" oder "regulierten" Kapitalismus, keine "soziale Marktwirtschaft", dann muss der kapitalistische Gott sterben.

Dieser Text von Georg Spoo erschien zuerst in agora24, "Kapital" (4/2021). Spoo promoviert zur Kritik des Idealismus bei Kant und Fichte und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg.


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