Geist und Gegenwart

Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

18. November 2023

Sterben lernen #2: Ein Schierlingsbecher voll Hoffnung

Sokrates' Wiederauferstehung

"Der Mensch bringt sein Leben damit zu, daß er lernt, was er wußte..."

So bringt Vladimir Jankélévitch (Der Tod, Suhrkamp, 2017, S. 22) die antike Metapher vom Sterben lernen auf einen paradoxen Punkt. Denn, dass jeder Mensch einmal sterben muss, ist so ein allgemeines Gesetz, dass jeder es wohl weiß. Aber man weiß es als allgemeines Gesetz und man weiß erst einmal nichts darüber, was das genau für einen selbst heißt. "Das Ereignis, das wie kein anderes vorauszusehen ist, ist paradoxerweise das unvorhersehbarste." (Ebd. S. 29) "Erst wenn er in das Nichts zurücksinkt und dem Sein entrissen wird, erfährt der Mensch die Tatsächlichkeit der Veränderung." (Ebd. S. 24) Was ist diese "Tatsächlichkeit der Veränderung"?

Der Tod des Sokrates, Jacques-Louis David, 1787 (gemeinfrei)

Platon schwebt offenbar keine allzu negative Veränderung vor. Wenn Sokrates im Phaidon sagt, dass "die richtig philosophierenden danach [trachten] zu sterben" und wenn er weiter meint, dass "tot zu sein [...] ihnen unter allen Menschen am wenigsten furchtbar" sei, dann ist damit nicht gemeint, dass sich Philosophen besser auf den Tod vorbereiten und durch Weisheit den Tod akzeptieren lernen können. Bei Platons Sokrates ist es eher umgekehrt: Die Philosophen versuchen schon im Leben insofern tot zu sein, als dass sie schon lebend versuchen, die Seele vom Körper zu trennen. "Befreiung und Absonderung der Seele von dem Leibe" sei geradezu "das Geschäft der Philosophen". Sokrates entschied, nicht vor der Hinrichtung zu fliehen, freut sich gar auf den Tod, denn erst im Tod, könne er die Ideen selbst schauen und damit durch und durch philosophisch in Platons Sinne werden:

"Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne daß es freilich die Andern merken, nach gar nichts anderm streben, als nur zu sterben und tot zu sein."

"Auch ziemt es sich ja wohl am besten, daß der, welcher im Begriff ist dorthin zu wandern, nachsinne und sich Bilder mache über die Wanderung dorthin, wie man sie sich wohl zu denken habe. Was könnte einer auch wohl noch weiter tun in der Zeit bis zum Untergang der Sonne!" (Platon: Phaidon, projekt-gutenberg.org 18.11.2023)

5. Oktober 2023

Sterben lernen – #1: Akzeptanz, anstatt Hybris

"Philosophieren heißt sterben lernen", meinte Platon. Ein starker Satz, den wir uns in der Lektion 2 genauer ansehen müssen, denn er flüstert in unsere heutige Ohren einen modernen, existenzialistischen Sinn, der ursprünglich nicht gemeint war. Aber erst einmal: Einfach so dahin leben und irgendwann tot sein? Oder lieber sukkzessive weiser werden und versuchen mit dem Nicht-Sein vor und nach uns, einem erfüllten Sein näher zu kommen? Mir gibt die Endlichkeit viel Freiheit: Was zählen all die kleine Sorgen im Angesicht der Ewigkeit? Und sie motiviert mich, das Beste aus dem zu machen, das mir gegeben wurde (christlich gesagt) oder zu dem ich gezwungen wurde (existenzialistisch gesagt). 

Manche Bäume werden über 500 Jahre alt, und gerade die so genannte Krönung der Schöpfung muss mit 80 abtreten? (Friederike Mayröcker)

29. September 2023

Gesellschaftlicher Fortschritt und Überforderung

Ich würde mich einen progressiven Konservativen nennen (man könnte auch "Grünenwähler" dazu sagen). Gesellschaftlicher Fortschritt ist mir unheimlich wichtig, denn das ist es schließlich, was es heißt, Mensch zu sein, Kultur zu haben. Und das Bewahren ist mir ebenso wichtig, angefangen vom Bewahren der Natur über Bewahren der Demokratie und auch das Bewahren von Umgangsformen, Höflichkeit und Tugenden.

Ernst Thälmann Denkmal im Ernst-Thälmann-Park Berlin-Prenzlauer Berg. Aufgenommen kurz nach einer Säuberungs-Aktion, daher ohne Graffiti
Was ist gesellschaftlicher Fortschritt und wo geht's jetzt lang? (Bildlizenz: CC BY-SA 4.0 Deed)

Was ist denn gesellschaftlicher Fortschritt?

"Fortschritt bezeichnet die in einer Folge von natürlichen, kulturellen oder politischen Ereignissen nachträglich erkannte, für die Gegenwart angenommene oder für die Zukunft erhoffte Entwicklung von Zuständen zum Besseren hin." (Staatslexikon, Volker Gerhardt)
In meiner Interpretation ist gesellschaftlicher Fortschritt die Bewegung weg von allen vermeintlich "natürlichen" und hierarchischen Herrschaftsformen ("Recht des Stärkeren", "Gnade der Geburt") und die Bewegung hin zur Inklusion aller und v.a. auch benachteiligter Menschen, die Ausweitung partizipativer Möglichkeiten von "Randgruppen", Minderheiten und "Misfits". Immer dort, wo Stereotype aufgelöst werden und Restriktionen aufgrund von persönlichen Merkmalen abgebaut werden, ist gesellschaftlicher Fortschritt. Beispiele:

  • Abschaffung von Sklaverei
  • Ausweitung des Wahlrechts
  • Recht auf Asyl
  • Ehe für alle 
  • Barrierefreiheit
  • Gleichberechtigung von Frau und Mann 
  • Aufspüren und Beseitigen von strukturellem Rassismus
  • Selbstbestimmung über das eigene Leben und den eignen Körper
  • Bewusstwerden und Veränderung von zuvor unbewussten Vorannahmen

5. August 2023

United States of America v. Donald J. Trump, Defendant

Ein politisches Theater, ohne das die Demokratie einpacken müsste

Zum ersten Mal in der Geschichte der USA wird ein ehemaliger Präsident von einzelnen Bundesstaaten wie Georgia oder New York und vom Staat USA selbst wegen krimineller Handlungen während seiner Amtszeit angeklagt. Zum ersten Mal mussten wir das Spektakel sehen, dass einem kürzlich abgedankten Präsidenten in einem Washingtoner Gericht die Fingerabdrücke genommen und ihm seine Rechte vorgelesen wurden. Was für ein Theater! Und so beginnt die Anklageschrift gegen den früheren Präsidenten:

"Der Angeklagte, DONALD J. TRUMP, war der fünfundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten und ein Kandidat für eine Wiederwahl im Jahr 2020. Der Angeklagte verlor die Präsidentschaftswahl 2020. Trotz seiner Niederlage war der Angeklagte entschlossen, an der Macht zu bleiben."
Unterschrift Jack Smiths, Sonderermittler USA

Was geht uns das an?

Wenn ich mich mit Freunden und Bekannten hier in Deutschland über die historischen Entwicklungen unterhalte, die wir gerade in den USA beobachten können, dann sehe ich zum Teil Desinteresse oder auch Hoffnungslosigkeit. Das ist verständlich, denn wir haben unsere eigenen politischen Herausforderungen. 

Ich sage es mal so klar wie ich es empfinde: Die USA kämpfen gerade um ihre Zukunft als Demokratie und damit um ein Fortbestehen als eine fundamentale Macht, die der politischen Weltordnung eine gewisse Stabilität gibt. Als Beispiel: Stellen wir uns vor, welchen Vorteil Russland in seinem Angfriffskrieg auf die Ukraine gehabt hätte, wenn nicht Joe Biden, sondern Donald Trump regiert hätte, der die Nato sowieso abschaffen wollte und Selenskyj und die Ukraine schon vor dem Krieg in seinem ganz persönlichen Interesse erpresste (wofür er ja auch impeacht wurde).

Mit anderen Worten, was in den USA passiert, ist schon in ganz praktischer Hinsicht relevant für uns und es hat eine noch andere, vielleicht größerer Relevanz: Wenn die USA von der Demokratie in die Autokratie rutschen, dann könnte damit die gesamte Machtbalance zwischen Demokratien und anderen Staatsformen ins Rutschen kommen. Staatsformen wie die in China, in den Vereinigten Arabischen Emiraten oder in Russland bekämen einen mächtigen Aufwind und Marine Le Pen, Orbán, Giorgia Meloni und andere wüssten das mit Sicherheit auszunutzen, z.B. um die EU wieder abzuschaffen.

Nur noch einmal zur Einordnung, worum es diesen demokratiefeindlichen Kräften geht: Sie wollen zurück in eine Welt, die nicht durch Institutionen auf nationaler und übernationaler Ebene reguliert ist, weil sie dann ihre eigenen Interessen auf Kosten von Sicherheitsstandards, Arbeitnehmerrechten, Klima- und Umweltschutz, Frieden in der Welt, Menschenrechten usw. schrankenlos durchsetzen können.

30. Juni 2023

Die reaktante Gesellschaft: Jetzt erst Recht!

Freiheit, Autonomie und Reaktanz

Warum wählen Menschen eine Partei, die als in großen Teilen verfassungswidrig gilt? Warum bricht ein Sturm der Entrüstung los, wenn ein neues Heizungsgesetz kommt? Warum werden manche Menschen zu radikalen Anti-Feministen, wenn irgendwo gegendert wird? Warum haut mein Sohn noch ein paar Mal auf die Sträucher im Garten ein, wenn ich ihm sage, das sein zu lassen? Warum rauche ich erst recht, wenn meine Frau, der Arzt, ja der gesunde Menschenverstand sagt, das sei nicht gut für meine Gesundheit? Sind wir einfach bockige Kinder? Ist das Trotz? Was passiert, wenn wir uns bevormundet fühlen? 

Oder noch viel spannender diese Frage: Warum fühlen wir uns eigentlich ständig bevormundet, obwohl wir in einer Welt der historisch größten Freiheiten zu leben?

Ausschnitt aus Der kleine Trotzkopf von Gustav Vigeland CC BY-SA 4.0

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