19. November 2022

Hat die Demokratie der USA doch eine Zukunft?

Zukunftsszenarien einer durch reaktionären Populismus erschütterten Gesellschaft

In unregelmäßigen Abständen betrachte ich seit der Präsidentschaft Donald Trumps die Entwicklungen in den USA. Nicht nur, weil meine Biographie mit diesem Land verbunden ist, sondern vor allem, weil wir hier live miterleben können, wie eine gesetzte Demokratie durch eine schwere Krise geht. Ausgang unbekannt. Die psychologischen, juristischen und weltanschaulichen Aspekte dabei sind faszinierend für mich. 

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Nun gab es wieder atemberaubende Entwicklungen, die eine demokratische Zukunft doch wieder wahrscheinlicher machen, wenn auch nur unter haarsträubenden Umständen für das Zweiparteiensystem USA. Bevor wir dazu kommen, kurz ein Rückblick.

From "Hope" to "Nope". Was inspiriert Wähler? Negativität scheinbar nicht (CC0 Public Domain)
 

Was bisher geschah

2017 gewinnt Donald Trump die Präsidentschaftswahlen, obwohl seine Gegnerin Hillary Clinton 2,1% mehr Wählerstimmen bekommen hat. Das ist aufgrund des Wahlsystems in den USA nicht ungewöhnlich. Auch Al Gore musste sich G.W. Bush geschlagen geben, obwohl Gore mehr absolute Wählerstimmen hatte.

Das Desaster, das dann in Form einer Präsidentschaft Donald J. Trumps folgte, kennen wir alle: Kuscheln mit Putin und Kim Jong-un, Keilen gegen die eigenen Verbündeten, Erpressungsversuch gegenüber Selenski und der Ukraine, daraufhin Impeachment (#1), Corona Chaos, Abwahl und seit dem das Leugnen, dass er die Wahl verloren habe, inklusive Aufwieglung seiner Anhänger zur Erstürmung des Kapitols und daraus resultierend das Impeachment #2. 

Jetzt hat Donald Trump seine erneute Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2024 verkündet. Was bedeutet das für die USA und die Demokratie?

1. Oktober 2022

Critical Thinking

Was heißt es, kritisch zu denken?

Wir fordern andere – seltener uns selbst – oft auf, kritisch zu denken. Nur, was bedeutet das eigentlich? Wie können wir kritisch denken? Dieser Artikel bietet einen allgemeinen Überblick darüber, was es heißt, ein kritischer Denker zu sein, und skizziert sowohl traditionelle als auch neuere Ansätze des kritischen Denkens.

Dieser Text der Philosophin Carolina Flores erschien auf 1000-Word Philosophy auf Englisch und kann dort im Original mit Fußnoten gelesen werden.

Wenn "p" und "aus p folgt q" dann "q" (Wikipedia CC BY-SA 4.0)

1. Was ist kritisches Denken?

Allgemein gesprochen besteht kritisches Denken darin, auf sorgfältige Weise zu argumentieren und zu hinterfragen, um die eigenen Überzeugungen auf der Grundlage guter Gründe zu bilden und zu aktualisieren. Ein kritischer Denker ist jemand, der typischerweise auf diese sorgfältige Weise argumentiert und nachfragt, relevante Fähigkeiten beherrscht und die Neigung entwickelt hat, sie anzuwenden.

3. September 2022

Nichts glauben und lieber selbst recherchieren?

Vom Selberdenken und den Tücken der Wahrheitsfindung

"Soll das ein Witz sein? Quantenmechanik –
darüber diskutieren wir hier? Bleiben Sie bei ihren Leisten!"
Walter White zu Saul Goodman in Better Call Saul

Wie das nervt, wenn ich von skeptischen Mitmenschen ermahnt werde, doch bitte nicht so ein Schaf zu sein und alles zu glauben, was mir von "angeblichen" Wissenschaftlern erzählt wird. Hier ein paar Beispiele:


Sie glauben immer noch nicht an Reptiloide unter uns? (Chris Gold, CC BY-NC 2.0)

  • Es gibt keine außerirdischen Reptiloiden unter uns, die aussehen wie Menschen und uns alle steuern? Ja, Reptiloide – das klingt erst einmal nach Fantasy, aber wenn man sich die gut recherchierten Dokumentationen auf YouTube ansehe, dann falle es einem "wie Schuppen von den Augen" (pun intended).
  • Unsere heutigen Klimakatastrophen seien menschengemacht? Ich kennte wohl die Arbeiten des norwegisch-amerikanischen Physikers und Nobelpreisträgers Ivar Giaever nicht? Dieser habe nachgewiesen, dass es keinen Klimanotstand gäbe... 
  • Impfschäden? Übersterblichkeit? Wirkungslose Homöopathie? Diese angeblichen Wissenschaftler sind doch alle von der Pharma-Lobby gekauft. Bist du wirklich so naiv?

23. August 2022

Karma oder Schadenfreude? Zum Tod einer Tochter

Wie ist es moralisch zu bewerten, wenn wir uns diebisch freuen?

Ist es legitim, sich über das Unglück eines anderen Menschen zu freuen? Schadenfreude ist menschlich, so viel ist klar. Aber ist sie nicht auch verwerflich, also aus einer Perspektive der Ethik betrachtet falsch?

Was steckt hinter der Schadenfreude?

Schadenfreude ist die Freude über einen Schaden, der für jemanden anderen eingetreten ist. Eigentlich freut man sich ja nicht über Schäden, die auftreten, sondern über etwas positives, das einem selbst oder anderen widerfährt. Warum kann es also überhaupt Freude über einen Schaden geben? Na offensichtlich, weil man dem anderen eben genau diesen Schaden gewünscht oder nach Möglichkeit sogar selbst zugefügt hätte und weil man meint, dass einem selbst durch den Schaden des anderen etwas Gutes widerfahren sei. Auch ein vereinfachtes und unklares Gerechtigkeitsgefühl kann eine Rolle spielen. Die Freude ist offenbar auch dadurch noch gesteigert, dass der Schaden eingetreten ist, ohne dass man selbst dafür sorgen musste.

Kurz gesagt: Man profitiert vom Schaden eines anderen. Aus ethischer Perspektive kann man also argumentieren, dass die Freude über den eingetretenen Schaden moralisch nicht besser ist, als der Akt des Zufügen eines Schadens selbst. Man könnte vielleicht sogar behaupten, dass die "billige" Schadenfreude des Zuschauers noch perfider ist, als der Akt des Schadenzufügens, denn hier freut man sich ohne eigenes Risiko. Ein interessantes Beispiel, wie die Rechtssprechung von der Moral abweicht, denn egal wie moralisch verwerflich – für Schadenfreude wird man nicht vors Gericht gestellt.

Auch nach den bekannten goldenen Regeln und ethischen Imperativen, nach denen man anderen nichts zufügen oder wünschen solle, dass man nicht auch für alle inklusive sich selbst wünschte, ist Schadenfreude also ganz klar moralisch verwerflich. Einen Ausweg gäbe es, wenn man sich über eine harte Strafe freut, die man sich auch selbst für ein Fehlverhalten wünscht. In religiösen Kontexten kann man das sehen, wenn jemand sündigt und sich erst besser fühlt, nachdem er dafür auch Buße tun konnte. Die Selbstgeißelung wäre solch ein Beispiel. Wer sich über das Auspeitschen eines anderen freut und für alle inklusive sich selbst in Anspruch nimmt, bei vergleichbaren Vergehen auch ausgepeitscht zu werden, der wäre bei dieser Art Schadenfreude fein raus.

9. Juli 2022

Maschinen, denken, Tod

Individuen, fühlen, Leben

Dies ist ein Update zum Artikel Von der Sorge und vom Denken vom 22. Mai 2022. Dort beschrieb ich u.a., wie Hannah Arendt das Denken als eine Art ethischen Imperativ sah, denn das Denken ist Voraussetzung für das gelingende Ringen um richtig oder falsch im Individuum. Wer nicht denkt, kann nicht moralisch fundiert handeln.

Beispielhaft wurde das für sie in der Figur Eichmanns, dessen Prozess in Jerusalem sie begleitete. Hier war ein durchschnittlicher Mensch von normaler Intelligenz, der das Zwiegespräch über richtig und falsch in sich selbst abgebrochen hatte und sich so zu einem gut geölten Rädchen in der Holocaustmaschine der Nazis hat machen lassen. (Von der Sorge und vom Denken)

Apropos Maschine

Die Maschine hat dem Individuum hier das Denken gewissermaßen abgenommen. Sie entlastet, wie Arnold Gehlen sagt, den Menschen vom Denken und das gebiert mitunter grausame Unmenschlichkeiten, wie wir z.B. am Holocaust sehen. 

Auf eine paradoxe Art führt uns das zu einem weiteren Grund, warum das Denken so unpopulär geworden ist. In seiner Vorlesung Einführung in die Systemtheorie (siehe oben: original Tonaufnahme aus dem Wintersemester 1991/92 an der Universität Bielefeld) geht Niklas Luhmann (ungefähr ab Minute 50 in der Aufnahme, siehe Markierung oben im Player) darauf ein, dass das rationale Denken im Westen – obschon im Aufschwung befindlich – spätestens seit und mit der Romantik immer auch deskreditiert wird.

22. Mai 2022

Von der Sorge und vom Denken

Warum ist das Denken so unbeliebt?

Denken hat heutzutage nicht unbedingt den besten Ruf. Lange habe ich mich am Kopf gekratzt, wenn ich mitbekam, dass Menschen um mich herum in Zweifel zogen, dass das "Philosophieren" ein guter Weg wäre, einen Zugang zur Welt und zur eigenen Position in dieser Welt herzustellen.

Zuviel denken macht krank! Solche Aussagen haben mich immer sehr irritiert. Oder: Meditieren, statt denken! Wir müssen im Hier und Jetzt sein. Oder: Nicht immer nur denken, auch mal machen! Das hat sich mir dann schon eher erschlossen, wenn ich auch immer umgekehrt dachte, dass zu viel machen ohne genügend nachgedacht zu haben, das eigentliche Problem sei. Besser verstanden habe ich das Problem bei typischen Fagen wie: Wie kann ich es abstellen, dass meine Gedanken immer so rasen?

Es geht bei all den oben so unbehaglich problematisierten kognitiven Vorgängen gerade nicht ums Denken. Wie soll denn denken, krank machen können? Und gerade beim Denken bin ich doch am ehesten im Hier und Jetzt! Und denken schließt doch das Handeln nicht aus, ist hier vielleicht "zögern" gemeint? Und "rasende Gedanken" ist eigentlich schon das Gegenteil von denken.

5. Mai 2022

Wie Abtreibung in den USA wieder illegal werden könnte

Wie man amerikanischen Frauen die Rechte an ihren Körpern wieder zu entziehen versucht

Seit rund fünfzig Jahren (50!) haben amerikanische Frauen in allen Bundesstaaten prinzipiell ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Dieses Recht könnten sie nun wieder einbüßen, weil der Oberste Gerichtshof der USA laut einem Entwurf plant, dieses Grundrecht wieder zu kassieren. Sollte es dazu kommen, dann wird es auf die Gesetzgebung des jeweiligen Bundeslandes ankommen, wie die Gesetzeslage rund um Abtreibung gehandhabt wird. 

(Update 25.6.2022: Inzwischen ist die Entscheidung tatsächlich so gefallen und alle Konjunktivformen in diesem Artikel müssen nun als Indikativ gelesen werden.)

Upside down – Wenn eine Minderheit die Mehrheit politisch dominiert
 
In manchen Ländern, die wie zum Beispiel Irland in dieser Frage lange rückständig waren, drehen sich die Uhren zwar langsam, aber wenigstens nach vorn. Das heißt, Frauen wird zugestanden, auf Kosten des ungeborenen Lebens, die Entscheidung selbst zu fällen, ob sie dieses Leben austragen und in die Welt setzen wollen oder nicht. Die Abwägung ("auf Kosten des ungeborenen Lebens"), die dabei stattfindet, nimmt sich die Frage zum Angelpunkt, ab wann das gezeugte Leben zu einem Menschen mit Grundrechten wird. Das ist natürlich eine schwierige Frage, denn Leben, Menschwerdung, Individualwerdung, Bewusstsein etc. sind alles graduelle Phänomene, bei denen es schwer fällt, ganz klar zu trennen in ein Vor oder ein Danach.

13. April 2022

Prekär geborgen in der letzten Kugel

Eine (fast unmögliche) Kurzfassung zu Peter Sloterdijks Sphären Band II von Paul-Heinz Schwan

Globalisierung oder Sphäreopoiese im Größten ist das Grundereignis des europäischen Denkens das seit zweieinhalbtausend Jahren nicht aufhört, Umwälzungen in den Denk- und Lebensverhältnissen der Menschen zu provozieren. (Peter Sloterdijk)

Das Leben – eine runde Sache?

Das Runde, Bergende, Harmonische begeistert. Es zieht uns schnell in seinen Bann. Es fasziniert zunächst und beherrscht dann diejenigen, die so "beherrscht" – heute würde man sagen: geführt – werden möchten. Rundes ist einnehmend, bewegend. Es inspiriert das Gefühl. Es schmeichelt dem Wohlsein. Der runde Tisch, die gesellige Runde. Das runde Lenkrad für die vielen PS. Wir sprechen vom "Runden" wenn wir beruhigen oder verführen wollen. Wir sitzen gesellig an runden Tischen, sind Teil einer illusteren Runde. Wer möchte nicht, dass der Tag, das Projekt, ja sein Leben eine "runde Sache" wird. 

Atlas, der die Welt hält und von 12 Frauen umgeben ist, die die 12 Tierkreiszeichen darstellen (gemeinfrei)

Irgendwie rundet man immer auf oder ab und wenn es nur der Schnaps zum Abschluss der Verhandlungsrunde ist. Sonst fehlt was. Rundungen wirken architektonisch immer. Die Portale einer Kirche und deren Decken sind rund. Wer im Altertum Herrschaft oder Schutz begründen wollte hielt eine Kugel in der Hand oder stand auf einer. In eine Ecke wird man gestellt und bestraft. In die Runde wird aufgenommen, kann die Mitte finden. Alles menschliche Leben beginnt in einer Rundung, in einer "Kugel". Dass wir auch an den Rand einer Rundung geraten können, dass wir auf einer Kugel wohnen die die einzige und letzte sein könnte, dass uns eine Kugel treffen kann, all diese Schrecken sitzen auch tief. Wie kann denn das Bergende auch unser Vernichter werden?

29. März 2022

Wie die US-amerikanische Demokratie (nicht) funktioniert

Ein Interview mit dem Philosophen Jared A. Millson über die Mutter aller Demokratien

Jared A. Millson ist Assistant Professor am Department of Philosophy des Rhodes Colleges. Rhodes ist eine kleine 1848 gegründete Hochschule mit dem Motto "Truth, Loyalty, Service", die immer wieder prominent in diversen Rankings erscheint und unter anderem für den schönsten Campus der USA berühmt ist. Von Millson ist bereits der Artikel Verschwörungstheorien... Warum nicht? auf Geist und Gegenwart erschienen.

Rhodes College: Palmer Hall im sprichwörtlichen Efeu (CC BY-SA 4.0, Washnockm)

27. Februar 2022

In welcher Welt sind wir aufgewacht?

Wir hatten einen Traum

Wir hatten einen Traum. Das war gut, wir brauchen Träume für eine bessere Zukunft. Wir haben geträumt. Und das war ein großer Fehler, denn die Realität nimmt auf Träumer keine Rücksicht.

Am Morgen nach dem russischen Angriff auf das souveräne Nachbarland Ukraine, sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock: "Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht." Das stimmt sicherlich und für sie und die Regierung, so könnte man meinen, ist es gerade noch gut, dass sie nicht schon länger an der Macht sind und vor sich hingeträumt haben. Wo ist eigentlich Heiko Maas? Vielleicht träumt er noch. Scholz wenigstens ist nach andauernder Bearbeitung durch die schon vorher wachgeschossenen Nachbarn, schlagartig aufgewacht und fängt an, Deutschland für eine neue Welt zu orientieren.

Ich sage ganz offen, dass ich total geträumt hatte. Und bevor ich jetzt Kommentare bekomme, was für ein Schlafschaf ich sei: Ihr Russland- und Putinversteher seid auch total verpennt und hattet einen Traum, der zu euch passte, ihr seid ihm auf andere Art auf den Leim gegangen. 

Vielleicht sind gerade wir von der Nachkriegszeit, von der unverhofften Einheit Deutschlands und dem langen, für uns im Westen recht lohnenden Frieden verwöhnten Kinder der aufklärerischen Dichter und Denker besonders geneigt, eine zunehmend friedensfeindliche Realität auszublenden. Schmunzelnd habe ich mich manchmal an die 80er Jahre erinnert, wo wir in der Schule übten, uns vor den Atomraketen unterm Tisch zu verstecken. Das Schmunzeln ist mir heute vergangen, in einer neuen und irgendwie alten Welt aufgewacht.

16. Januar 2022

Verschwörungstheorien... Warum nicht?

Eine unvoreingenommen philosophische Betrachtung

Die NASA hat die erste Mondlandung vorgetäuscht... Die US-Regierung orchestrierte die Anschläge am 11. September... Eine eingeschworene Gruppe Satan anbetender Pädophiler betreiben einen globalen Kindersexhandelsring und plant ein Komplott...

Mini Mondlandung (Eric Kilby, Lizenz: CC BY-SA 2.0)

Jede dieser Behauptungen wurde als "Verschwörungstheorie" angeprangert. Aber was sind Verschwörungstheorien? Und sollten wir jemals eine akzeptieren? Wenn ja, wann? Auf diese Fragen bietet dieser Essay von Jared Millson, Assistant Professor der Philosophie in Memphis USA erste Antworten.

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