16. September 2016

Wer hat Angst vor Cookies?

Wie viel Sorgen müssen wir uns um unsere Privatsphäre machen?

Das gerade erschienene Philosophie Magazin trägt den Titel "Wie berechenbar sind wir?" und hebt damit auf eine Angst ab, die sich inzwischen in den Mainstream reingefressen hat. Dabei haben es der Redaktion besonders die sogenannten Cookies unserer Internet-Browser angetan. Und es stimmt schon, dass es die Cookies sind, die bestimmte Aktionen unseres Surf-Verhalten aufzeichnen und diese Informationen zur Verwendung durch den Website-Anbieter bereit halten. Dadurch müssen wir uns z.B. nicht immer wieder neu anmelden, wenn wir eine Seite wie Amazon wiederholt besuchen und können dort andere personalisierte Services wie virtuelle Warenkörbe und flüssige Navigation sogar nach einem Verbindungsabbruch nutzen.

Eine gespenstische Herrschaft der Cookies?

Chefredakteur Wolfram Eilenberger sieht gar Gott im Cookie wieder auferstehen und auch Maurizio Ferraris, ein Vertreter des neuen Realismus, sieht eine gespenstische Herrschaft durch die Cookies.

Unwissenheit und Bequemlichkeit sind das Problem, nicht Cookies

Dabei sind gerade diese Cookies sehr einfach zu beherrschen. Man kann sie z.B. nach Belieben löschen oder im Browser auch ganz deaktivieren. Ich nutze z.B. sehr oft den incognito (Chrome) oder private (Firefox) Modus und verhindere damit je nach Einstellungen jegliches Nachverfolgen meines Verhaltens im Internet (Achtung: der Provider kann ohne IP-Verschleierung nach wie vor die Adressen der angesteuerten Websites aufzeichnen). Außerdem kann ich als ganz leichte Maßnahme empfehlen, nicht immer in seinem Facebook- oder Google- oder Was-auch-immer-Konto angemeldet zu sein. Denn durch dieses Eingeloggt-Sein entsteht erst ein umfangreiches Bewegungsprofil. Für Anbieter, wie die oben genannten, ist das "always logged in" eine der Hauptstrategien für das Sammeln der Nutzerdaten. Deswegen bieten sie uns Services an, die nur eingeloggt Sinn machen, wie z.B. Handy-Betriebssysteme oder personalisierte Startseiten und Suchergebnisse im Internet oder eine einzige ID für iTunes, MacBook und iPhone. Aber wie gesagt, wie wir das nutzen, haben wir selbst in der Hand und manche Anbieter wie Google geben uns sogar die Kontrolle über unsere Privatsphäre, wir müssen sie uns nur nehmen.

Wo also kommt die Gefahr eigentlich her? So wie immer im Leben sind vor allem unsere Bequemlichkeit und/oder unser Unwissen für unsere Unfreiheit und das gefühlte Unrecht verantwortlich. Wer nicht weiß, dass man Cookies ganz einfach deaktivieren kann oder wie man seine Einstellungen in Online-Konten anpasst, der ist selbstverschuldet unmündig und wer nicht auf die Annehmlichkeiten der Cookies beim Surfen verzichten will (so wie ich meistens), der kann erst Recht niemanden anders für den Kontrollverlust verantwortlich machen.

Die großen Experimente kommen noch

Das Aufzeichnen von Daten ist ja beileibe nicht auf Websites im Internet beschränkt.

"Dank Big Data sind wir derzeit – ob wir es nun wollen oder nicht – zu aktiven Teilnehmern des spannendsten Experiments in der Geschichte unserer Art geworden. Dieses Experiment betrifft die Frage nach der faktischen Vorhersagbarkeit oder eben Unvorhersagbarkeit unseres Alltagsverhaltens." (Eilenberger, Philosophie Magazin Nr. 06/2016, S. 42 oder hier online)

Da ist natürlich etwas dran, Google will seit jeher seine Suchmaschine zu einer Antwort-Maschine machen. Ich war in meinen sechs Jahren als Mitarbeiter bei einigen Kongressen dabei und kenne die Phantasien der Produkt-Manager. Einer sagte einmal, dass wir in der Zukunft nach dem Aufstehen einfach das Telefon fragen: "Was mache ich heute?" Und das Telefon macht entweder Vorschläge, die sich an unseren Interessen, dem Ort, der zur Verfügung stehenden Zeit, dem Kontostand etc. orientieren oder – und das ist wahrscheinlicher – es erinnert uns an all unsere Termine, wie wir sie noch vorbereiten müssen und wie wir auf dem schnellsten zum Treffpunkt kommen. Maurizio Ferraris sagt im Magazin zurecht, dass das Netz zu einem "Werkzeug für die Übertragung von Verantwortung und Handlungsbefehlen" wird und "jeder Kontakt in eine Anfrage verwandelt wird, die eine individuelle Antwort benötigt". Das Web sei somit "ein großer Apparat, der niemals schläft, in dem man arbeitet und dabei nicht einmal weiß, dass man arbeitet."

Die großen Vorhersagbarkeits-Phantasien sind noch nicht wahr geworden (oder nur sehr eingeschränkt im E-Commerce) und werden sich auch nicht über Cookies im Internet realisieren. Und auch, was den E-Commerce und seine Faszination mit unserem Kaufverhalten angeht, muss man nicht dramatisieren. Der Philosoph und Internet-Veteran Ethan Zuckerman sagt zur Vorhersagbarkeit unseres Verhaltens:

"Als Individuum sind Sie für den Markt nur bedingt interessant. Was dort vor allem zählt, sind nicht personenbezogene Informationen, sondern gesellschaftliche Trends. Das ist zumindest der aktuelle Stand der Dinge." (Zuckerman, Philosophie Magazin Nr. 06/2016, S. 47)

Die wirklich gefährliche Durchleuchtung unserer Privatsphäre passiert nicht beim täglichen Surfen im Internet, sondern sie fängt beim Einkaufen mit Bonuskarte an, geht über das Sammeln von Daten bei manchem Arbeitgeber und wird erst so richtig im sogenannten Internet der Dinge Fahrt aufnehmen, wenn z.B. selbst fahrende Autos untereinander und mit unseren Banken, Handys, und Internet-Profilen und GPS-Daten aus Google Maps und ähnlichen Services verknüpft werden. Oder wenn unser Einkaufverhalten mit dem Inhalt unseres Kühlschranks in Zusammenhang gebracht wird und der Zucker- und Alkoholkonsum an unsere Krankenkasse übermittelt wird. Oder wenn wir unser Gesundheitsprofil auf einer Chip-Karte ablegen und bei jedem Arztbesuch anreichern oder sogar einem Versicherungs- oder Pharmakonzern zur Verfügung stellen. Oder – wohl am Schlimmsten – wenn Gesichtserkennung über Kameras im öffentlichen Raum die Muster mit Bildern in Internet-Datenbanken und den Positionsdaten von GPS-Handys abgleichen. Wer sich vor solchen durchaus denkbaren Szenarien gruseln möchte, der sollte Dave Eggers Roman Der Circle lesen. Dort wird eine geschlossene Welt im endlosen und transparenten Feedback-Loop beschrieben.

Ich will hier gar nicht Entwarnung geben, sondern vielmehr sagen, dass das dicke Ende noch kommt. Und wenn wir jetzt schon an den süßen Cookies scheitern, dann wird deutlich, dass wir für die viel subtileren und schwerer zu beeinflussenden Vernetzungen, die mit dem Internet der Dinge auf uns zukommen, überhaupt nicht vorbereitet sind. Wir müssen uns nicht nur persönlich darauf vorbereiten, was wir mit den Maschinen teilen wollen und was nicht. Wir müssen auch entsprechende Gesetzesgrundlagen schaffen, die nicht nur verbieten, sondern Innovation zulassen, ohne dabei gleich wertvolle Konzepte wie Privatsphäre, Datenschutz und Entscheidungsfreiheit über Bord zu werfen. Solch ein Spagat ist sicher nicht einfach, aber die Zukunft kommt, ob wir sie aktiv managen oder einfach über uns kommen lassen.



Das passt dazu:

11 Kommentare:

  1. Mal nur zu einerm Punkt:

    Es ist ein Elend, zu beobachten, wie locker und erfolgreich die Überwachungstechnik dem öffentlichen Bewusstsein und irgendwelchen halbherzigen Gegenmaßnahmen voraus eilt!

    Cookies sind dafür ein super Beispiel: Genau zu dem Zeitpunkt, da sie wirklich fast nurmehr der Bequemlichkeit dienen und das Tracking längst auf effektivere, nicht so leicht "wegschaltbare" Methoden umgestiegen ist, nerven uns überall diese überflüssigen Einverständnis-Popups, die es nun aufgrund einer EU-Verordnung gibt. Und immer öfter ist von den bösen Cookies die Rede.

    Nein, Cookies sind nicht mehr das Hauptproblem, sondern sozusagen vorgestrig. Schon lange wird mittels des Browser-Fußabdrucks ("Canvas Fingerprinting")getrackt, der heutzutage durch die vielfältigen individuellen Rahmendaten und Einstellungen die Surfer sehr genau wiedererkennbar macht! Und das lässt sich nicht so einfach aushebeln.

    Wer Cookies nicht erlaubt, handelt sich zudem Probleme ein, deren Ursache man nicht so leicht bemerkt. Ich hatte einige Zeit die Einstellung "Cookies nur von besuchten Seiten erlauben" genutzt, um allerlei Anzeigen-Tracking-Codes von Werbenetzwerken auszuschließen. Es hat gedauert, bis ich drauf gekommen bin, dass es daran lag, dass ich auf Blogspot-Blogs (Google) nicht mehr kommentieren konnte!

    Richtig anonym surft man nur mit einem VPN-Dienst, damit ist dann auch "nur in ihrem Land verfügbar" und andere Nervigkeiten vorbei.
    Hier ein informativer Artikel darüber:
    http://www.vpnanbieter.net/#expressvpn


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    1. Danke Claudia für diese Ergänzungen!

      Das mit dem "Canvas Fingerprinting" wusste ich noch gar nicht, gut zu wissen. Übrigens nutze ich für verschiedene Zwecke auch verschiedene Browser, wie viel das hilft, weiß ich nicht. Unterm Strich bleibt für mich, dass das Tracking beim Surfen in Zukunft unser geringstes Problem sein wird. Das Bündeln all der Daten mit denen der Dinge und Orte um uns herum wird noch ganz andere Dimensionen annehmen.

      Mit dem Hinweis auf Proxy-Dienste und IP-Verschleierung, die neben Verschlüsselung noch ein Riesen Potential haben, triffst du ein wichtiges Problem: Im Moment scheint das beim Normalverbraucher nicht anzukommen und natürlich finden wir bei den großen Anbietern auch gar keine Lobby dafür, weil es ihren Interessen zuwider läuft.

      Und ja: Ich erinnere mich an die Zeit, als du frustriert meintest, dass meine Kommentarfunktion nicht geht und ich habe keine Lösung finden können :) Gut, dass du das herausgefunden hast.

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  2. Hier kann man seinen eigenen Canvas Fingerprint ansehen:

    https://amiunique.org/fp

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  3. "Als Individuum sind Sie für den Markt nur bedingt interessant. Was dort vor allem zählt, sind nicht personenbezogene Informationen, sondern gesellschaftliche Trends. Das ist zumindest der aktuelle Stand der Dinge."

    Das Individuum ist für den Markt nur deshalb bedingt interessant, weil wir es als Menschen im Spannungsfeld der technischen Lebensweise mit einer Auflösung des Individuums zu tun haben. Die Macht von Institutionen, Organisationen, Plattformen wird größer, während die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Menschen immer beschränkter wird. Seit etwa hundert, hundertfünfzig Jahren ist das EGO in den Mittelpunkt der Kritik geraten, nicht weil das EGO schlecht, unnatürlich oder selbstsüchtig ist, sondern weil das EGO in einem technischen Organismus, in dem Zahnrädchen in Zahnrädchen greifen und die Abläufe wie am Schnürchen funktionen müssen, keinen Platz mehr hat. Diejenigen die den Egoismus der Menschen geißeln, reden einer technischen Lebensweise, in der es nur um das Funktionieren geht, das Wort. In einem technisch-künstlichen Umfeld verwandeln sich Menschen in Quanten: Als Einzelne sind sie nicht nur uninteressant, sondern voneinander ununterscheidbar. Sie sind nur über ihre Massenwirkung, nämlich ihrem Konsum, mess- und erfassbar. Man kann nur in Prozentangaben und Wahrscheinlichkeiten über sie reden. Die Verbindungen sind so vernetzt, dass man nicht mehr von Individuen reden kann.

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    1. Das ist wenigstens mal eine steile These ;) An der erkennt man, dass du nicht im Osten Deutschlands aufgewachsen sein kannst bzw. nicht alt genug bist, diesen Teil der Geschichte einzuordnen. Für mich, der in den 80er Jahren in Ostberlin aufwuchs, ist es genau umgekehrt: Die Entscheidungsfreiheit für mich als Individuum hat enorm zugenommen, die Institutionen sind geschrumpft. Nun könnte man das einen Sonderfall nennen, aber wenn ich nach Osten blicke, dann stellt sich das überall außer vielleicht hier im Westen der Welt genau so dar. Es ist auch nicht ganz klar, wieso sich eine Datenerhebung für Konsumzwecke sofort übersetzen soll in einen Untergang des Egos. Nur weil das Individuum für Marketing unerheblich ist (war es schon immer), kann man daraus nicht 1:1 auf andere Gesellschaftsfelder schließen. Deine These scheint mir nicht nur steil, sie scheint auch noch weiteren Belegen zu bedürfen, wenn sie irgend eine Relevanz haben soll.

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    2. Hast Du mal versucht, Dich selbständig zu machen? Vergleich doch mal die Vorschriften für eine Geschäftsgründung von 1960 mit denen von heute, inklusive all der Organisationen, denen Du als Selbständiger heute beitreten und bezahlen musst. Vergleich mal die Zahl der Geschäftsneugründungen in Deutschland mit denen in Vietnam oder anderswo. Oder guck mal, wie viele selbständige Handwerker und Kleinbetriebe es noch gibt im Vergleich zu früher.

      Vergleich dann mal die Bauvorschriften mit früher. Versuch mal, selber ein Haus zu bauen, ohne das ganze Projekt an eine Baufirma abzugeben. Versuch mal, ein Bestattungsunternehmen zu umgehen und eine Beerdigung selbst in die Hand zu nehmen. Dann verstehst Du meinen Standpunkt vielleicht besser.

      Es würde mich interessieren, wo für Dich die Entscheidungsfreiheit zugenommen hat. Ich erleb genau das Gegenteil. Ich darf ja nicht mal mehr frei entscheiden, was für eine Glühbirne ich in die Fassung schraube.

      Der Prozess der Ich-Werdung wird in einer Gesellschaft, die als Masse amorph bleibt, verunmöglicht. Ein Massenmensch ist ein Mensch im Zustand der Ichlosigkeit. Im Marketing zählt bloß der Massenmensch. Es ist umgekehrt, wie man allgemein annimmt: Der moderne Mensch hat nicht zuviel EGO, sondern zuwenig. Er ist nicht mehr fähig, seine Bedürfnisse zu befriedigen, so diese vom Mainstream und den durch Marketing erst künstlich erzeugten Bedürfnissen abweichen.

      An die Stelle des Ackerlandes im zweiten Phasenübergang (Agrarisierung) tritt jetzt im dritten Phasenübergang der Mensch selber. Er "beackert" sich selber. Deshalb werden all die Daten gesammelt und wieder und wieder bearbeitet. Du siehst ja, was beim Ackerland herausgekommen ist: Monokulturen, Eintönigkeit, enorme Verarmung, 100%ige Nutzbarkeit und am Schluss Wüste. Dasselbe passiert nun mit uns Menschen. Diese Datenerhebungen sind im übertragenen Sinne nichts anderes als "Verwüstungen". In dieser dritten Phase tun wir uns selber an, was wir in der zweiten der Natur angetan haben.

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  4. Hinsichtlich der großen Institutionen wie Ehe, Religion und Kirche, Arbeit etc. ist die Liberalisierung des Individuums (im Westen) nicht zu leugnen. Denken wir an "Homo-Ehe" als ziemlich neue Entwicklung, Adoptionsrechte oder etwas früher die Möglichkeit zur Scheidung, zum Austritt aus der Kirche, zur Verweigerung der Taufe etc. All das hat positive und negative Seiten (die positiven überwiegen für mich). Dass es auch Bürokratie auf der Ebene der "kleinen Institutionen" gibt und dass die hier und da zunimmt, will ich gar nicht leugnen. Aber so etwas schneidet weniger ins Ego als zum Beispiel die freie Wahl meines Geschlechts, meiner Sexualität, Religionszugehörigkeit und so weiter.

    "Der moderne Mensch hat nicht zuviel EGO, sondern zuwenig. Er ist nicht mehr fähig, seine Bedürfnisse zu befriedigen, so diese vom Mainstream und den durch Marketing erst künstlich erzeugten Bedürfnissen abweichen."

    Das mag für einige zutreffen, ist aber keineswegs eine passende Beschreibung neuer Dynamiken. Auf allen Ebenen nimmt heute die individuelle Handlungsfreiheit und Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung zu. Es gibt im sogenannten "Long Tail" noch für jedes abgefahrene Bedürfnis eine Befriedigung.

    Aber das ist ja gar nicht so sehr Thema des Artikels, sondern vielmehr die Transparentwerdung gegenüber einigen Akteuren in der Wirtschaft, die eben genau diese individualisierte Befriedigung als Anreiz bieten, ohne wirklich am Individuum interessiert zu sein.

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    1. Ich habe vor Kurzem einen interessanten Artikel gelesen. Hier der Link:

      http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/die-macht-der-internetkonzerne-wie-facebook-14440287.html

      Im Westen hat die Kirche/Religion ihre Macht verloren (und ich hoffe, dass sie in der Auseinandersetzung mit dem Islam nicht wieder erstarkt!). Die Verfügungsmacht ist zunächst auf Einzelstaaten übergegangen bzw. Staatenverbünde. Jetzt dämmert im Hintergrund eine neue Macht herauf, welche die Staaten und Staatenverbünde kontrolliert: die Konzerne. Das sind nicht nur die Internetkonzerne. Durch diese Umschichtung der Machtverhältnisse kommt es vorübergehend zu einer scheinbaren Liberalisierung, die darin besteht, einfach ein paar Vorzeichen zu vertauschen. Wurde vor 100 Jahren ein Homosexueller stigmatisiert, so wird heute jeder stigmatisiert, der Homosexualität nicht gut findet. Wurden vor 100 Jahren Leute verfolgt, die Grenzen (wie die von Nationalstaaten) auflösen wollten, so werden heute die an den Pranger gestellt, die Grenzen schützen oder aufbauen wollen. Obwohl in Wahrheit gerade die, die sagen: "Wir schaffen das!", auf verlogene und hinterlistige Weise die Grenzen schließen. Aber das sind doch bloß die Peanuts, mit denen wir abgelenkt werden.

      Der neue Feudalismus, der dem einzelnen Menschen durch die Konzerne droht, übertrifft die bisherigen Feudalismen. Bis gestern war es den Feudalherren egal, was ihre Sklaven über sie dachten und wie sie sich fühlten, die Hauptsache war, die Sklaven taten die Drecksarbeit. Die bisherigen Feudalherren haben sozusagen bloß die "Außenseite" der Menschen kontrolliert. Die neuen Feudalherren wollen jedoch den Geist und die Gefühle des einzelnen Menschen kontrollieren, also seine "Innenseite". Kontrollieren die Konzerne diese "Innenseite", können sie die einzelnen Menschen beliebig manipulieren, und genau das haben sie vor. Diese Entwicklung läuft schon. Dave Eggers ist doch schon überholt, so schnell geht das.

      Deshalb wird dem einzelnen Menschen momentan extrem erschwert bis verunmöglicht, existenziell frei zu bleiben und für sich selbst zu sorgen (seinen eigenen Acker zu bestellen). Das ist nicht nur ein bisschen mehr Bürokratie, sondern vor allem die Steuerlast, die ein Selbständiger zu tragen hat, zumal er seine eigene Altersvorsorge treffen muss.

      Der "Verlust des EGO" ist schon die passende Beschreibung für eben diese Dynamik. Darum geht es: dass der einzelne Mensch kein ICH mehr hat, das ihn als Person zusammenhält und das die Entscheidungen trifft. An diese Stelle tritt der neue "Feudalherr" und flüstert seinen Sklaven ein, was sie zu wünschen und zu wollen haben. Die Leute in der IT-Branche sind kleine Weltherrscher. Wie die in der Finanzbranche auch. Mal sehen, wer gewinnt.

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    2. PS: Um den Geist und die Gefühle des Menschen kontrollieren zu können, muss man sie erstmal kennen. Das ist der Grund für die Transparentwerdung, für den "gläsernen Menschen". Das und nichts anderes steckt hinter dem derzeitigen Datensammelwahn.

      Mein grundlegendstes Bedürfnis besteht darin, für mich selbst zu sorgen und bei Überkapazität mit Leuten aus meinem engsten Umfeld zu teilen, die mir was bedeuten. Mein zweites grundlegendstes Bedürfnis besteht darin, von Superorganismen wie Staat oder Konzernen unabhängig zu sein. Also frei zu sein. Das ist heute nicht mehr möglich! Wenn diese meine grundlegendsten Bedürfnisse nicht respektiert werden, sind alle anderen angebotenen "Ersatzbefriedigungen" belanglos, was immer da im "Long tail" (keine Ahnung, was das ist) angeboten wird.

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    3. Danke für deine Ergänzungen und den Hinweis auf diesen Artikel, den ich erst gern und dann mit zunehmendem Ärger gelesen habe.

      Es ist immer wieder schön, wenn wirtschaftsliberale Blätter plötzlich nach mehr Staat schreien, vor allem dann, wenn sie selbst eine Entwicklung verschlafen haben und nun plötzlich (zu Recht) fürchten, von Robotern ersetzt zu werden, wie dieser Auszug zeigt: "...die „Washington Post“, die im Besitz von Amazon-Chef Jeff Bezos ist, hat Künstliche Intelligenz eingesetzt, um automatische Berichte von den Olympischen Spielen zu generieren..."

      Jedenfalls hätte man mit KI einen wesentlich mehr auf Fakten als auf irrationalen Ängsten basierenden Artikel über dieses Thema schreiben können, anstatt einen solchen ganz klar auf Stimmungsmache ausgerichteten Artikel, mit pauschalisierenden und Formulierungen, wie "...den sozialen Autismus, den Technologieunternehmen vortäuschen, ihre unerträgliche Arroganz, die sich mit kurzsichtiger und libertärer Politik mischt, ihr freiwilliges Exil ins Land, in dem die Geschichte zu Ende ist..."

      Obwohl der Autor (Morozov kennt sich in der Szene aus) es besser wissen müsste, als solche Generalisierungen und einfachen Feindbilder zu verbreiten. Ich würde auch gern wissen, woher er die Zukunft kennt, in der Internet-Konzerne angeblich "am Ende von sämtlichen anderen Akteuren, von den Regierungen bis zu den Verbrauchern, eine happige Gebühr für den Zugang zu der Schlüsselressource von heute verlangen." Nicht, dass das unmöglich ist, aber es gibt viele wahrscheinlichere Szenarien.

      Eine andere gern verbreitete Meinung ist, dass kein "Start-up [...] mächtig genug sein (kann), um es mit Konzernen wie Facebook oder Google aufnehmen zu können". Das hat man von Google gesagt, bevor es Facebook gab. Solche Blicke in die Zukunft stellen sich hinterher immer als naiv und wenig informiert heraus. Und der Artikel strotzt vor solchen Weissagungen.

      Am Ende kann ich gar nichts Falsches an der Forderung finden, Staaten mögen sich bitte um dieses Thema kümmern. Nur warum muss es mit solcher Panikmache und in dieser "postfaktischen" Manier daherkommen? Das desavouiert doch alles nur die ansonsten richtigen Forderungen.

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