16. September 2018

Souveräne Vorbilder oder von den Umständen überfordert?

Nicht nur für Eltern: zur Selbsterziehung in den Wald

Mein zwei Jahre alter Sohn hatte heute früh Schwierigkeiten, seinen LKW mit Kastanien zu beladen und sagte plötzlich laut und frustriert "fuck!" Als ich klein war, haben Erwachsene ihren Kindern noch den Mund mit Seife ausgewaschen, dabei war es doch schon immer so offensichtlich, dass sie sich wohl besser selbst den Mund hätten waschen sollen. Denn schlimme Wörter oder Verhaltensweisen entwickeln Kinder ja nicht aus sich selbst heraus, sondern sie übernehmen das von uns vorgelebte Verhalten. Das macht mir ehrlich gesagt große Sorgen und ich komme zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben unter den Druck, auch in der Freizeit ein gutes Vorbild für jemanden anderen sein zu müssen.

Selbsterziehung im Wald (Foto: Gilbert Dietrich, CC BY-SA 2.0)

Überfordert und getrieben

Warum mir das Sorgen macht? Weil ich schon die meisten Erwachsenen heute und ihr Verhalten untereinander nicht mag. Beispiel: Am Montag fuhr ich mit meinem Fahrrad in Berlin Mitte die Linienstraße entlang. Ich mag die Linienstraße, denn es ist eine Fahrradstraße parallel zur verkehrsüberlasteten Torstraße, auf der eben alle besonders auf Fahrradfahrer Rücksicht nehmen. Entgegen kam mir ein Golf, der plötzlich vor mir auf meine Fahrbahnseite fuhr und anhielt. Ich wäre fast auf der Motorhaube gelandet, musste stark bremsen und stieß einen kurzen Schreckschrei aus. Dann fragte ich die Fahrerin durchs offene Fenster, was das sollte? Sie brüllte mich einfach an und sagte "Reg dich ab!" und fuhr davon.

Wir machen alle mal Fehler beim Fahren, aber dann ist doch die angemessene Reaktion, sich kurz zu entschuldigen und dann ist gut. Ähnliches Verhalten sehe ich inzwischen immer öfter und nicht nur im Verkehr: Leute haben kein Gespür mehr dafür, was sie anderen Menschen zumuten und nehmen sich das Recht heraus, sich selbst und ihre Bedürfnisse über alles andere inklusive das Recht zu stellen. Sich gegenseitig anzumotzen ist inzwischen Alltag. Wie nehmen das unsere Kinder wahr? Was machen sie aus solchem Verhalten und wie finden sie zu gesellschaftlich notwendigen Tugenden wie Respekt und Rücksichtnahme gegeneinander, wenn wir es ihnen nicht vorleben können?

Der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff bestärkt mich in meinen Sorgen, wenn er meint, dass Kinder kaum noch die Chance bekommen, sich zu sozial reifen Menschen zu entwickeln. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn unsere Gesellschaft in 20 Jahren aus Erwachsenen besteht, die sozial unreif geblieben sind, weil schon ihre Eltern ihnen nicht mehr zeigen konnten, wie man sich souverän in dieser Welt bewegt. Solche unreifen Erwachsenen unterliegen der Illusion, alles drehe sich nur um sie selbst und sie hätten das Recht, andere so zu steuern, wie es ihnen am besten passt. Gleichzeitig können sie selbst jedoch nicht steuernd agieren und werden ständig mit der enttäuschenden Welt konfrontiert, die sich eben nicht steuern lässt.

In sich selbst ruhen können

Wenn ich Winterhoff zuhöre, bekomme ich den Eindruck, dass er da übertreibt in seinem Wettern gegen unsere mangelnde Erziehung, mit der wir die Kinder durch falsch verstandene Partnerschaft überfordern. Er meint ganz sicher nicht, dass wir zu den Zeiten zurück kommen müssen, in denen wir den Kindern den Mund mit Seife auswuschen. Denn auch das war falsch und führte zu psychischen Schäden. Ich verstehe aber, wenn er meint, dass wir nun nicht ins andere Extrem umschlagen können, indem wir den Kindern gar keine Vorgaben, Leitlinien und Grenzen mehr vermitteln. Das überfordere die kindliche Psyche, die eben auf Erziehung angewiesen ist.

"Kinder müssen wieder als Kinder gesehen werden. Heute sind wir dazu übergegangen, sie uns als kleine Erwachsene ebenbürtig zu machen und damit restlos zu überfordern." (Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit, 18f.)

Die für mich interessanteste Frage Winterhoffs ist, warum wir unsere Kinder zunehmend mit zu viel Partnerschaft überfordern, anstatt ihnen reife, erwachsene Vorbilder zu sein. Denn es ist in seiner Diagnose weniger ein sozialpolitischer Zeitgeist aus den 1968er Jahren, als unsere eigene Überforderung, mit der wir unsere Kinder konfrontieren. Warum schreit mich die Golffahrerin auf der Fahrradstraße an? Sicher ist sie keine Psychopatin, aber irgendwie auch keine reife Erwachsene, wenn sie nicht versteht, dass sie da gefährlich in meinen Bewegungsraum eingreift und dann nicht einmal die Größe hat, sich einfach nur kurz zu entschuldigen. Ich nehme an, auch sie war einfach überfordert, vielleicht akut durch den Verkehr oder aber latent, weil ihre Umwelt es nicht zulässt, dass sie zur Ruhe kommen, sich besinnen und die beste Version ihrer selbst sein kann.

Denn das ist Winterhoffs Diagnose: Eltern ruhen nicht mehr in sich selbst, sondern signalisieren ihren Kindern ständig, dass sie durch die Umstände getrieben sind, durch die Arbeit, den Verkehr und besonders durch das Mobiltelefon und seine uns ständig zu irgendwelchen Aktionen zwingenden Benachrichtigungen. Mitunter springen Kinder auf diesen Zug auf und sind dann ein weiteres Element, das die Eltern treibt. Wenn Eltern nur noch Getriebene sind, die nicht mehr mit Kontrolle agieren, sondern nur von anderen kontrolliert reagieren, dann haben sie auch kaum die Möglichkeit, ihre Kinder zu führen, anzuleiten und ihnen eine Vorbild darin zu sein, wie man souverän sein Leben führt. So sehr ich den Gedanken ablehne, dass früher alles besser war und heute alles den Bach runtergeht, so sehr kann ich dennoch bestätigen, dass es in den Zeiten der ständigen Erreichbarkeit und des optimierten Zeitmanagements schwerer geworden ist, in sich selbst zu ruhen und sich selbstbestimmt die Zeit und Ruhe für ein souveränes Handeln zu nehmen.

Shinrin-yoku – mit dem Wald gegen Stress

Winterhoff sieht die einzige Chance darin, dass wir den Kreislauf des ständigen Getriebenseins durchbrechen, off-line gehen und erst dann wieder einschalten, wenn wir es geschafft haben, aus dem endlosen Strom des Stresses auszusteigen. Er behandelt also regelmäßig nicht die zu ihm geschickten Kinder, sondern verordnet den Eltern am liebsten ein ausgiebiges Waldbaden. Um den ersten großen Effekt zu haben, schickt er die Erwachsenen für vier Stunden mit etwas zu essen und ohne Handy in den Wald, später reichen auch zwei Stunden spazierengehen. Die Japaner kennen das in ihrer Naturheilkunde als Shinrin-yoku und auch bei uns wird das Waldbaden zunehmend ernst genommen.

Zuerst merken wir, wie die Gedanken noch rasen und wir uns besorgt fragen, was da jetzt ohne unsere Kontrolle zu Hause oder auf der Arbeit passiert, was wir im Internet verpassen oder wer uns vielleicht gerade versucht, anzurufen. Nach einer Weile aber schaffen wir es, uns auf die Natur einzulassen, die grüne Umgebung beruhigt unsere Augen, der hohe Sauerstoffgehalt der Luft lässt uns tief atmen und beruhigt und schärft die Sinne. Die Terpene aus ätherischen Ölen, mit denen die Pflanzen im Wald kommunizieren, machen die Atemwege frei, fahren das Immunsystem hoch und überschwemmen uns mit Wohlbefinden. Unsere Gedanken fangen an, im sanften Takt unserer Schritte zu schwingen. Wir kommen runter, die großen alltäglichen Sorgen werden plötzlich in neuen Zusammenhängen sichtbar und schrumpfen in ihrer Bedeutung.

Ich gehe jetzt jedes Wochenende einmal mit meinem Sohn in den Wald. Er sitzt dann meistens in der Trage auf meinem Rücken und mutmaßt über die Füchse, Wildschweine und Dachse, die gerade irgendwo dort hinter den Bäumen schlafen. Manchmal machen wir an seltsamen Flechten und Pilzen halt oder schauen den Hornissen zu, wie sie an einem holen Baum ein- und ausfliegen. Am schönsten ist es aber, wenn wir einfach nur schweigend vor uns hingehen. Mein Sohn schwingt einen Stock und summt vor sich hin und ich merke, wie all der unnötige Ballast von mir abfällt, wie sich die Stürme im Kopf legen und wie es ausreicht, ganz einfach nur ich mit Kind in einem Wald zu sein. Dieses Gefühl nehme ich dann mit nach Hause und injiziere es in meinen Alltag. Viel mehr braucht es gar nicht, um runter zu kommen und die Kontrolle über sein eigenes Leben wieder zu erlangen. Lass die anderen doch schreien!

Als ich zu Hause dann sah, wie viele Benachrichtigungen inzwischen auf meinem Handy aufgelaufen sind, habe ich erst mal die Settings geändert. Was helfen mir denn die "Eilmeldungen" von SPON (Hambacher Forst Dutzende Festnahmen und Verletzte bei Räumungsaktion) oder die Erkenntnis, dass irgendwer wieder ein Bild auf Instagramm hochgeladen hat? Das nimmt doch nur psychische Energie von mir und erhöht den Grundstress meines Lebens. Sowas braucht kein Mensch. Wir brauchen Wald!



Das passt dazu:
shinrin-yoku
shinrin-yoku

4 Kommentare:

  1. Mit meinem Vater bin ich spät nochmal 2, 3 Stunden wandern.
    Wir hatten das ewig nicht mehr gemacht.
    Ich fühlte mich etwas unsicher dabei.
    Ich war nicht gerade sein Mustersohn, hatte es zu nichts gebracht und bin sehr sehr spät ins Leben losgelaufen.
    Mit meinem Vater gab es darüber keinen Austausch.

    Ich bewege mich oft im Wald und auf der Flur, vornehmlich um zu fotografieren allerdings.
    Als ich noch arbeitete, war das oft erfrischend, frei machend. Da nutzte ich das aber nur ab und an.

    Unlängst berichtete ich auf meinem Blog von einem Naturschutzgebiet, in dem ich ganz alleine unterwegs war, in einer fremden, heilen und heiligen Welt.
    Wie heilsam ich das empfand. Ich phantasierte, daß man so wirklich heil werden kann.

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  2. Die Zahl der Kommentare ist in letzter Zeit sehr zurückgegangen. An der Qualität der Texte liegt es definitiv nicht.

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    1. Das liegt zum großen Teil daran, dass ich wenig Zeit auf Online-Marketing verwende, kaum etwas in den sozialen Netzwerken teile oder mich um Kooperationen kümmere. Die Zugriffszahlen auf Geist und gegenwart sind dadurch stark zurück gegangen und die Kommentare somit auch.

      Das ist der Preis, den ich bewusst für mehr Offline-Zeit bezahlen.

      Danke für das Kompliment zur Qualität!

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  3. Ich hatte hier oft kommentiert, Anonym.

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