12. Februar 2017

Der Weg wird durch das Gehen geschaffen

Von der Notwendigkeit des Reisens zu Fuß

"Was soll ich im Wald,
wenn ich dabei an etwas denke,
was nicht im Wald ist?"
(H. D. Thoreau)

Die meisten von uns sitzen heute mehr, als dass sie ihre Beine gebrauchen. Egal ob bei der Arbeit, zu Hause oder in der Fortbewegung dazwischen: Wir sitzen. Henry David Thoreau hat in seinem Text Vom Spazieren bereits in den 1850er Jahren von solchen wie uns gesagt: "diesen Menschen gebühre eine gewisse Anerkennung, weil sie ihrem Leben nicht schon längst ein Ende gemacht haben" (S. 59, Durch Welt und Wiese: oder Reisen zu Fuß).

Der Autor beim Wandern in der nordöstlichen Mecklenburger Seenplatte

Das ist ein mich aufrüttelnder Satz. Thoreau lief nach eigener Auskunft jeden Tag mindestens vier, meistens jedoch mehr Stunden über Hügel, Felder und durch Wälder. Für ihn war das tägliche Sitzen eine Art Krieg des Menschen gegen sich selbst, weil man gewissermaßen sich selbst belagere und versuche, "eine Garnison auzuhungern, der man sich eigentlich verbunden fühlt."

Wie oft fühle ich genau dieses Aushungern, dieses drohende Verkümmern der Kraft, des Drangs und der Bewegung in mir. Das Laufen und das Gehen sind schließlich die ältesten Stärken des Menschen gegenüber seinen natürlichen Konkurrenten. Wir laufen ausdauernder noch als jeder Wolf. Laufen und Menschwerdung sind nicht von einander zu trennen. Unser ganzer Körper von den kurzen Zehen über den großen Gesäßmuskel bis hin zum aufrechten Gang ist aufs Laufen ausgerichtet. Das ständige Sitzen auf Couch und Bürostuhl ist eher nichts für uns und schwächt Körper und Geist. Ich versuche – sozusagen wenigstens homöopathisch – dagegen zu halten, indem ich oft mein Fahrrad zur Arbeit schiebe und nach der Mittagspause 10 bis 20 Minuten um den Block gehe. Aber was ist das gegen vier Stunden? Was ist ein Block in Berlin gegen einen Wald, indem man nur an das denkt, was auch im Wald ist?

Denken und Laufen sind enge Verwandte

Nicht nur können unsere Gedanken wandern und umherschweifen, wir entwickeln sie auch in sogenannten Gedankenschritten und manchmal können unsere Gedanken auch rasen. In der deutschen Romantik sind Literatur und Philosophie ohne das Wandern gar nicht zu denken und auch heute kennen wir diese Menschen, die beim Auf- und Abschreiten ihre Gedanken entwickeln. Inzwischen ist der Zusammenhang zwischen Denken und Gehen auch wissenschaftlich belegt: Der gleichförmige Takt des Gehens hilft dem Hippocampus bei seiner rhythmischen Transaktion gadanklicher Inhalte vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis. Das Umhergehen und das Denken sind in allen Kulturen eng verknüpft. Ilja Trojanow und Susann Urban haben in der ANDEREN BIBLIOTHEK eine auf 4414 Exemplare limitierte und äußerst bibliophile Textsammlung mit dem Titel Durch Welt und Wiese: oder Reisen zu Fuß herausgegeben (ich habe Exemplar #714 gekauft). Gegliedert in Aufbrüche, Betrachtungen, Meditationen, Spaziergänge, Entbehrungen und Verwandlungen kommen Autoren wie eben Thoreau, Peter Handke, Jack London, Robert Walser, Werner Herzog und Jack Kerouac zu Wort. Das ganze Buch ist angefangen von Trojanows Einleitung Fußwärts bis zum letzten Text Gammler, Zen und hohe Berge von Kerouac eine poetische Philosophie des Gehens, des Sehens, des Erlebens, des Verschwendens und des Denkens auf Füßen.

Denken, so liest sich diese Sammlung, ist aufs Gehen angewiesen. Herrscht nicht inzwischen auch eine Verbindung zwischen dem Nicht-mehr-Gehen und dem wohl ebenso verbreiteten Nicht-mehr-Denken? Mit der Industrialisierung wurde ein ganz neuer Rhythmus der Fortbewegung nötig. Was zu Goethes Zeiten noch Tage in der Kutsche oder auf Schusters Rappen dauern durfte, musste nun in Stunden gehen. Die Dampflokomotive und dann das Auto verwandelten das Gehen ins Sitzen und damit das gemächliche Denken in ein hektisches Planen. Gehen ist aus dieser Perspektive geradezu eine subversive Zeitverschwendung:

"Folgte man seinem Instinkt, dann stellte es sich über kurz oder lang unweigerlich heraus, daß der Weg von dem Ziel, auf das man zuhalten wollte, immer weiter abwich." (W. G. Sebald, a.a.O., S. 209)

Oder, wie Antonio Machado sagt: "Es gibt keinen Weg, der Weg wird durch das Gehen geschaffen" (a.a.O. S. 25). Jedoch, die durchs Gehen erschaffenen Wege zählen heute wenig. Wer heute geht, der scheint keine vernünftige Beschäftigung zu haben. Am deutlichsten fiel mir das auf, als ich in den USA lebte. Selbst in Städten gibt es dort oft keine Bürgersteige, weil sowieso alle mit dem Auto fahren. Und auch jetzt in Berlin, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit ungefähr nur drei bis vier Kilometer gehe, muss ich mich bremsen. Ich komme zu leicht ins Hetzen, als würde ich "kostbare Arbeitszeit" durchs Gehen und Schauen nur vergeuden. Dass es geradezu umgekehrt der Fall ist – dass die sitzende Arbeit ein Vergeuden kostbarer Bewegungszeit und schöpferischen Denkens sein könnte – daran hat mich dieses schöne Buch von Trojanow und Urban erinnert.

In letzter Zeit denke ich immer häufiger zurück an meine Wanderungen durch die Pyrenäen, durch den Böhmerwald, die irische Küste entlang oder auch durch den schönen Nordosten Deutschlands. Ich vermisse das und muss dem wieder mehr Raum geben. Ich habe mir in den letzten Jahren eine kleine Auszeit zusammengearbeitet. In diesem Jahr werde ich etwas von der Arbeit pausieren, mich mehr um meine Familie kümmern und auch das Gehen und Denken wieder zu ihrem Recht kommen lassen. Ich werde wieder Wege schaffen und vom Ziel abweichen. Welch Luxus, welche Wohltat, eine Notwendigkeit!



Das passt dazu:

14 Kommentare:

  1. Gehen kann für mich wirken wie Nahrung zu sich nehmen. Oder wie Schöpfen.
    Zum einen Schöpfen aus dem Körperlichen, der direkten Erfahrung des Körpers, zum anderen aber auch Schöpfen aus der Erscheinung der Aussenwelt, der Gestalten und Strukturen darin, die zu uns beim Gehen sprechen und in Kontakt treten.
    Desweiteren bringt das Gehen das Denken in Bewegung. Es verläuft anders als beim Sitzen, worüber es auch, hier nicht notwendigerweise aufzuführen, Befunde in den Neurowissenschaften geben dürfte und geben wird.
    Gehen ist auch etwas Ursprüngliches. Es gehört zum Menschsein dazu. Es ist dem Menschen eigentümlich. Wie unlängst herausgefunden, ist das spezifisch menschliche von den Fersen her abrollende Gehen dem nachahmenden Gehen des Tieres auf den Ballen überlegen, weil es den Schwerpunkt des zurückgelegten Schritts unterhalb der Erdoberfläche legt.
    Abgesehen von diesem Befund ist Gehen eines der elementaren Bewegungsmittel. Gehen ermöglicht und führt zum Tanzen und nicht umsonst gehört Tanz zu einem der unmittelbarsten menschlichen Ausdrucke. Im Tanzen erfährt man seinen Körper auf ganzheitliche Weise, man bewegt und erfährt.Emotionen.
    Gehen ist auch erstes Mittel zum Klären von Gefühlen und Verstand. Gehen kann aufwecken. Gerade gegen Abend, wenn die Kräfte erlahmen, kann Gehen um den Block den Kopf erfrischen, die Müdigkeit vertreiben und nachlassende Spannkraft erneuern. Zudem bringt es einen Bruch in den Ablauf des Tages.
    Eigentümlich am Gehen ist, daß sich dabei notorische Gedanken in Schleifen verfestigen können. Das bemerkt man gelegentlich beim notorischen Geher, wenn man diesem ins Gesicht schauen kann. Statt Frische begegnet man dann dem zwanghaften Grübeln, des verkrampft in sich Wohnenden.

    Gehen ist für mich in erster Linie Bewegung. Deshalb lechze ich auch noch nach ganzheitlicher Bewegung wie in Ballspielen jeder Art, überhaupt spielerischer Bewegung. Unlängst einen Film über einen israelischen Tanzchoreograph gesehen, in dem man bewegte Bilder aus seinen frühen Zwanzigern sehen konnte, in denen er spielerisch Fallen, Sichwiederaufrichten auf einer Wiese exzertierte, nicht um seine artistisches Können hierbei unter Beweis zu stellen, sondern aus kindlicher Freude am „Lümmeln“. Damals war dieser Choreograph im übrigen noch kein Tänzer. Die Berufung dazu kam erst relativ spät in seinem Leben.

    Exzessives Laufen kann auch von Verdrängung erzählen. Jemand, der unentwegt joggen will oder allzeit auf den Fluren zu finden ist, dem kann man manchmal assistieren, daß er vor etwas davonläuft. Am ehesten merkt man wohl so etwas an sich, wenn man absolut nicht vom täglichen Ausdauerpensum lassen kann.

    Gehen ist auch Medizin. Ich selbst durfte das erfahren: Unter Diabetes II leidend, verhalf mir Gehen, Gehen, Gehen zu einer Befreiung von dieser Krankheit. Gehen, ausdauerndes Gehen ist hier erstes Mittel!

    Zum Phänomen des Gehens könnte man vermutlich noch einiges Mehr anführen. Ich will es aber dabei belassen!

    Gerhard
    Kopfundgestalt.com

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    1. Sehr schön, ja – gehen ist urmenschlich und deshalb auch wie Medizin für unsere inzwischen etwas denatuierten Körper. Bewegung als Schöpfen, das ist ein sehr schönes Bild.

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  2. Es folgt mein berichtigter Kommentar, ich hatte einen Fehler mit der Silbentrennung. Also das Ganze nochmal ohne Silbentrennung:

    Ich habe mich heute sehr darüber gefreut, als ich diese Nachricht empfangen habe über das Gehen. Wie lange habe ich es vernachlässigt. Also es ging bei mir eher um das Joggen, aber das ist ja verwandt mit dem Gehen. Ich hatte mich am Samstagabend noch im Internet in ein Thema viel zu sehr hineingesteigert, das mich persönlich betraf und beschäftigte, weil es etwas war, was ich mir gar nicht erklären konnte. Dann ertappte ich mich dabei, wie ich „emotional“ fast schon hysterisch darauf reagierte und mich ernsthaft fragte, ob ich jetzt einen Verfolgungswahn oder eine Paranoia habe. Ich war total „aufgewühlt“ deswegen. Das war genau der Punkt, wo ich mir sagte, so und jetzt ist es wieder mal soweit, dass ich mal ein oder zwei Tage erst gar nicht in das Internet gehe, was ich auch machte, denn an solchen Reaktionen merke ich das immer selbst, dass ich Abstand brauche.

    Was machte ich also? Richtig, ich zog endlich mal wieder meine Joggingschuhe an und joggte los. Die übliche Strecke, auch durch den Wald, die ich früher immer gemacht hatte. Was stellte ich fest? Meine Kondition war schlecht. Was bedeutete, dass ich die Strecke, die ich immer am Stück durchjoggte, mit Etappen des Gehens immer wieder unterbrach. Aber es hat sich ja trotzdem sofort gelohnt. Ich war wieder viel klarer und fühlte mich sofort wieder viel besser danach. Und der Effekt ist wirklich der, dass es mir hilft, quasi meinen Geist wieder zu reinigen. Der körperliche Effekt ist auch gut, denn ich will auch wieder körperlich besser in Form kommen.

    Die Natur und das Gehen hat Heilkräfte, die man an sich selbst am besten spürt. Es ist schwer, andere davon zu überzeugen, die es vielleicht langweilig finden, wenn man den Wald und die Natur aufsucht, egal ob im Gehen oder beim Joggen. Den Effekt spürt man ja nur an sich selbst, am eigenen Körper, am eigenen Wohlbefinden.

    Deswegen freut es mich, dass mich diese Nachricht von Geist und Gegenwart gerade heute, fast zeitgleich, also am selben Tag, an dem ich endlich mal wieder den Entschluss gefasst habe, erreicht hat. Außerdem waren viele Spaziergänger, ob Paare oder Familien oder auch Hundebesitzer unterwegs. Also ein gutes Zeichen.

    Und was sage ich mir jetzt? Am besten gleich morgen noch einmal und wieder viel regelmäßiger fest in meinen Tagesablauf integrieren. Das hat doch früher auch geklappt.

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    1. Glückwunsch zu deinem Entschluss und ich wünsche dir viel Kraft, dabei zu bleiben. Danke auch für deine immer sehr persönlichen Kommentare!

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  3. So gesehen, ist es dramatisch, dass Kinder sich immer weniger bewegen.
    Neulich habe ich gelesen, dass sich nur noch ein Drittel der Kinder in Deutschland täglich eine Stunde lang bewegt. Alle anderen sind im wahrsten Sinne des Wortes "Sitzengebliebene".

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    1. Ja, in der Tat ist das dramatisch. Und gar nicht nur so wegen der körperlichen Bewegung, sondern auch wegen der Seinsvergessenheit, die damit einhergeht.

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  4. Antworten
    1. Tolle Bilder auf deinem Blog! Da kriege ich große Lust, mit meinem Kleinen und seiner Mama wieder in den Wald zu gehen... Danke!

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  5. Ein schöner und wahrer Text. Ja, gehen und denken, aber auch vom denken loslassen gehören zusammen. Wilhelm Reich hat übrigens die "sitzende" Gesellschaft pointiert chrakterisiert. Hier ein Zitat daraus:
    „Kein Reh oder Bär,kein Elefant oder Wal,kein Vogel und keine Schnecke könnten jemals so auf der Stelle sitzen wie der Mensch.
    Sie würden austrocknen und bald sterben.
    Im Zoo kann man sehen, was das Sitzen aus wilden Tieren macht.“ (Wilhelm Reich: Christusmord, Frankfurt/M, 1983, S.120)

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    1. Danke für diese Ergänzung!
      Das stimmt schon, auf der anderen Seite sind da so viele Dinge, die Tiere nicht können und Menschen ständig machen. Also das allein macht das Sitzen noch nicht schlimm.

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    2. Hallo Gilbert,
      das stimmt: wir kriegen das Sitzen erstaunlich gut hin. Während viele Tiere ihre langen Beine dazu nutzen sich zu bewegen, lasse ich sie an meinem Bürostuhl herunterbaumeln. Ich habe dabei bloß das Gefühl, dass die Tiere da was sinnvolleres hinbekommen ;-) und irgendwie trockne ich dabei auch aus. Ich gehe jetzt einfach eine halbe Stunde raus ...

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  6. Vielen Dank für diesen Blog, die wertvollen Texte und diesen zum "Reisen zu Fuß" insbesondere... Mein persönliches Schlüsselerlebnis waren ~900 Kilometer zu Fuß auf dem Jakobsweg Küstenweg im letzten Jahr. Nie zuvor war ich mehr bei mir, bewusster, klarer und dem Zustand des Glücks näher als an diesen Tagen die so intensiv, unendlich lang, gefüllt und reich waren. Die Wahrnehmung wird wieder eine andere... Die Sinne werden frei - ohne Rausch, Nebel & Zeitraffer. Die Gedanken haben Zeit sich zu ordnen und klar zu werden. Sich sammeln und bewusst werden ohne Ablenkung. Ohne Routinen. Natur und sich selbst spüren und erleben. Und die Erkenntnis, dass ganz, ganz wenig reicht. Danke nochmals für Deine Gedanken. So viel Wahrheit und Wert. Liebe Grüße

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    1. Danke für das Teilen deiner Erfahrung dazu! 900 Kilometer sind viel. Ich habe nie gemessen, wie weit ich kam, aber meine 3-Wochen-Wanderung durch die Pyrenäen war sicher das längste, was ich bisher gegangen bin. Meine Erfahrungen sind deinen dabei sehr ähnlich. Beste Grüße!

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  7. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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