Beim Frühstück habe ich darüber nachgedacht, warum es für einige Menschen einfach zu sein scheint, frei von Schuldgefühlen und Angst zu leben, während andere davon geplagt sind, sich ständig zu fragen, ob sie gestern richtig gehandelt haben und welche Entscheidungen sie heute treffen müssen, damit morgen alles glatt geht.
Dabei ist mir aufgegangen, dass Schuld oder Reue stets an die Vergangenheit geknüpft sind, während Angst auf die Zukunft gerichtet ist. Die Angst selbst hat man zwar im Jetzt, wenn man unmittelbar bedroht wird. Aber in bedrohen steckt schon der Zukunfstaspekt - es passiert noch nicht, steht aber vermeintlich unmittelbar bevor. Wenn die gefürchtete Situation dann eintritt, man beispielsweise von dem Hund angegriffen wird, der eben noch bedrohlich geknurrt hat, dann weicht die Angst den Handlungsimpulsen in der eingetretenen Verteidigungs- oder Fluchtsituation. Ähnlich ist es mit allen anderen gefürchteten Situationen, die uns bevor stehen, sei es der Verlust eines Partners oder nur eine Prüfungssituation. Die Angst weicht anderen Gefühlen, sobald die Situation eingetreten ist. Schuld und Reue fühlen wir dann, wenn wir zurückdenken und befinden, dass wir etwas falsch gemacht haben.
Beiden Komplexen (Schuld und Angst) hängt eine fundamentale Machtlosigkeit an. Wir können eben nicht ändern, was wir gestern getan haben. Genauso wenig können wir die Zukunft vorhersagen. Wir müssen sozusagen warten, bis sie ans Jetzt heranrückt, bevor wir mit ihr umgehen können. Natürlich können wir uns auf sie vorbereiten, doch dazu müssen wir Vorhersagen treffen. Insofern ist Angst oder Sorge stark geeignet, uns unter Druck zu setzen. Wir wollen immer genauere und wahrscheinlichere Vorhersagen treffen und uns auf deren Grundlage optimal vorbereiten.
Einige glückliche Menschen scheinen in der Lage zu sein, mehr im Hier und Jetzt zu leben, anstatt in der Vergangenheit oder der Zukunft. Dazu - so glaube ich bemerkt zu haben - neigen kinästhetisch-assoziative Charaktere, deren Wahrnehmungshemmschwelle gering ist, die also permanent den Eindrücken ihrer Umwelt ausgesetzt sind. Wie Kinder sind sie schnell ablenkbar und immer auf der Suche nach neuem. Wenn dieses Kindliche einher geht mit der sehr erwachsenen Fähigkeit, die Eindrücke auch bewusst zu verarbeiten, haben wir jemanden, der besonders im Hier und Jetzt lebt. Ich denke, jeder kann trainieren, die Umwelt bewusster wahrzunehmen, also den permanenten Input aus der Umgebung weniger zu filtern und mehr zu verarbeiten. Damit stärkt man das Jetzt-Bewusstsein (Awareness) und ist in der Lage, die augenblicklichen Geschehnisse in der Umwelt, bei den Mitmenschen, aber auch bei sich selbst zu beobachten und damit zu arbeiten. Es ist gewissermaßen die Matrix, die wir dann sehen. Die Grundlage unserer Handlungen und Entscheidungen scheinen uns klarer zu werden. Ich denke, dass dies eine gute Voraussetzung dazu ist, frei von Schuld und Angst zu leben und dabei das Hier und Jetzt zu schätzen.
Bei Interesse findet sich hier ein Exkurs zu der Frage, warum wir überhaupt in Hinsicht unserer Wahrnehmung und unseres Bewusstwerdens so eingeschränkt sind.
Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.
6. Februar 2010
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