17. Oktober 2015

Die Unsterblichkeit der Sterblichen

Ein Gastartikel von Daniel Horn

In einem Kommentar zum Artikel Das Leben siegt immer... und der Tod auch schreibt ein anonymer Leser: "Das Sich-nicht-Überleben kann ein Neuanfang sein, in einem neuen Wesen das ebenso (...)  in sein Dasein geworfen wird, wie wir es wurden. Ein radikaler Neuanfang, ohne 'nochmal von vorn' zu beginnen - der existenziale Sprung in das Nichts. Aber nicht in das immerwährende Wegsein." Der anonyme Leser war Daniel Horn und heute schreibt er davon, wie das "ich" in einem Leben nach unserem Tod auch ohne Gott und Magie einen neuen Anfang findet. Und was bedeutet das für unser Handeln heute, was folgt moralisch daraus?

Kommt da noch was? Und ob! (Bild gemeinfrei nach CC0)

Wie wir zu Tode und doch wieder zum Leben kommen

In der spät- oder areligiösen Zeit, in der wir leben, scheint es eine Binsenweisheit zu sein, dass wir alle eines Tages sterben. Pathetischer ausgedrückt, dass wir dem Tode als eigentümliche Konsequenz der Geburt, ohne Umweg und Ausweg, direkt in die vernichtenden Arme laufen. Kein Jenseits, keine Seelenwanderung, nur ein Stopp. Ein Aufhören der Zeit, die uns allein gehört, die unsere Existenz heißt. Und so mancher sehnt sich nach dem medizinischen Erfolg, diese so kostbare Zeit zu auszuweiten, das Altern hinauszuzögern oder ganz zu bekämpfen. Der Zeitdruck, möglichst ertragreich da zu sein, mit aufgerissenen Augen, aufgeschlossenen Sinnen und einem genauen Wissen von unseren tiefsten Sehnsüchten, ist uns nicht unbekannt. Genieße dein Leben oder vielmehr dein Noch-nicht-Sterben, genieße, dass du bald nicht mehr genießen darfst. Es ist wie jemand, der jeden Tag Henkersmahlzeiten isst, ohne Gelassenheit und mit einer gehörigen Anspannung. Natürlich auch Ansporn, überhaupt etwas auf die Reihe zu bekommen, aber ein Ansporn, der uns nicht selten pragmatischer werden lässt als es uns lieb ist.

Die Zeit hört auf. Und sie ist ganz unsere Zeit. Also hören wir auf. Diese Logik begründet, was wir personales Dasein nennen. Ein unsterbliches Leben, ein ewiges Existieren in alle Zeiten wäre nicht nur schwer auf abwechslungsreiche Art zu gestalten, sondern streng begrifflich gesprochen personenfrei und namenlos, wäre kein personales Dasein. Es würde das Dasein sich nicht eigens ereignen, denn dazu bedarf es der Grenze, der Abgeschlossenheit und Ganzheit. Es wäre ein benommenes Vegetieren eines Etwas, das für seine Existenz gänzlich unempfänglich ist. Mit anderen Worten, wir haben diesen Sinn für die Kostbarkeit der Existenz, das ist Beweis für das personale Leben genug. Dafür brauchte es keinen Heidegger, den es enttäuschte, dass die Menschen gegenüber der Unruhe, dem Angsthaben ein dickes, wärmendes Fell voller alltäglicher Sorgen und Nöte entwickelt haben, was keineswegs nur ein Zeichen des modernen Abendlands ist. Interessanter ist, dass wir alle zu Tode kommen und dabei übersehen, dass wir auch alle wieder zu Leben kommen werden.

Wie meine ich das, wenn ich sage, wir werden wieder zu Leben kommen? Ich meine es ganz anders als traditionsreiche Philosophien der europäischen und asiatischen Kulturräume, die an die Wiedergeburt glauben oder zumindest an ein kalkulierbares Schicksal nach dem Tode. Fassen wir es kurz: Wieder kommt man nicht, denn wiederholen kann sich nichts noch einmal. Doch alles Neue, sei es in Form von Vegetation, Tieren, neuen Menschen, braucht einen neuen Namen, und Raum, in dem es sich entfalten kann. Die Zukunft ist nicht einfach ein späteres Geschehen von dem, was schon einen Namen und damit eine festgestellte Existenz hätte. Sie ist radikal offen und unbestimmt. Was morgen ist, kann man nicht antizipieren. Man kann vermuten, dass die Sonne morgen wie gewohnt aufgeht, da die Sonne nicht neu sein wird, sondern die alte. Aber wir haben von dem, was an Neuem entsteht und neue Formen annimmt, noch keine Kenntnis, es ist nicht einmal vorstellbar. Ein Mensch, der in der Zukunft lebt, wird mit uns in personaler Hinsicht nicht annähernd identisch sein, er muss nicht einmal ähnlich sein. Und doch ist der radikale Neuanfang, der er ist, den wir nicht antizipieren können, so radikal, dass er trotz dessen ein einfaches neues zufälliges Dasein einhüllt, das wir – nun müssen wir die Zeit vorspulen über unseren Tod hinweg und alles, was wir waren, vergessen – dann leben, erleben, unser Ich nennen. Das Vorspulen der Zeit hat keinen kausalen Effekt. Nichts in ihm ist abgeleitet oder übergeleitet von uns. Nur die Zeit ist eine andere.

Der Tod ist eine Benommenheit

Währenddessen werden wir aber doch tot sein. Wir können nicht zugleich tot und lebendig sein, mahnt der Verstand. Obwohl es sich doch aufdrängt anzunehmen, dass der Tod einfach permanent individuiert und wir uns dies andere Individuum somit schon mal warm halten können, auch wenn wir uns radikal aufgeben und als Sterbliche vollenden müssen. Menschen, die noch kommen, sind gerade jetzt noch tot. Und Menschen, die bald sterben, sind in der fernen Zukunft immer noch tot. Trennen wir so, dann ergibt sich selbstverständlich, dass wir einmal existieren, auf Basis der bloßen Tautologie, dass wir auch nur Einzige, bzw. Einzelne sind. Dies sind wir aber nicht, wir sind auch die Monaden, die zugleich das ganze Universum spiegeln, wie Leibnitz es einmal deklariert hat. Wir sind das jetzige Universum und das Universum ist eine Gesellschaft von Monaden, die es spiegeln. Wir wandeln nicht in einem Fluss voll Seiendem bis ein Leben zu Ende geht, sondern wir sind auch Flussbett für dies Seiende. Wir stehen jeden Tag als jemand neues aus dem Bett, so sehr wir uns daran erinnern, was wir am Vortag gemacht haben und was wir noch erledigen wollen.

Deshalb schließt die Kontinuität, die wir brauchen, um uns angemessen als Personen begreifen und daran anschließend als endliche, vergängliche Wesen bestimmen zu können, nicht aus, dass wir doch auch erst mit dem jetzigen Universum haben uns an uns wenden können als der, der wir sind, und dass ein späteres Universum dies genauso ermöglicht, nur werden wir nicht mehr dieselben sein. Der Tod zwischen diesen Zeiteinheiten oder den Formativen eines Lebendigen ist einfach eine Benommenheit. Eine Benommenheit seiner selbst, ein großes Anderswerden und Vertilgtwerden mit unbekanntem Ausgang. Die Zeit nimmt uns aber auf eine neue Reise mit, ganz profan, durch alle die materiellen Möglichkeiten, Potenzialitäten hindurch, die die Zukunft nicht schon jetzt, sondern erst später bilden. Und irgendwann heißen wir vielleicht Gustav, obwohl wir nie Gustav hießen, und wissen letzteres nicht mehr, weil wir tatsächlich allererst Gustav sind. Ein Sprung in das radikal Neue, das wir auch wenn wir es versuchten, nicht einmal zu erklären bräuchten. Es gibt hier keinen harten oder weichen Übergang, kein Reset und kein schattenhaftes Überleben, es gibt aber auch keinen Grund, das Neue als das schon vorstellbar Fremde zu antizipieren, um das Eigene nur noch bissiger im Tode an seine Grenze kommen zu sehen. Wir sind auch so schon eigenartig und liebenswert genug.

Eine Ethik jenseits Egoismus und Altruismus

Davon einmal abgesehen steht diese Metaphysik wie ein zirkuläres aber wenigstens kohärentes System leer im Raum. Man weiß nun nicht, was das soll. Was das mit der Wirklichkeit zu tun hat. Genau deshalb soll das System dazu dienen, einen ethischen Neuanfang zu machen. Momentan möchte ich, dass möglichst allen gerecht wird. Vor allem mir selbst, wobei die Sympathie dennoch wichtig ist, da ich meine Interessen meist nicht allein verfolgen kann. Sympathie ist außerdem auch für sich selbst, als Solidarität, wichtig. Ich bin aber entweder egoistisch oder solidarisch, nicht beides. Zunächst betrifft das nur die Menschen, die mir begegnen oder begegnen könnten. Aber es wird Menschen geben, die mir noch nicht begegnet sind und mir niemals begegnen werden, da ich nicht mehr lebe. Genau diese Menschen sind nun aber potenziell wieder ich, als Neuanfang, den ich skizziert habe. Sie sind anders, das heißt ich bin in ihrem Anderssein nicht gegenwärtig und sie sind in meinem Selbst nicht angelegt, sie sind aber nicht fremd, andere Ichs, die schon jetzt vorgreifen als geborene Personen, also als unerlebbar. Nichts an ihnen steht mir dergestalt gegenüber. Also haben sie unmittelbar Daseinswert für mich. Als einer von eben diesen. Mein Egoismus kann das nicht begreifen, es bleibt lieber bei einem, dem bekannten Ich. Aber wer den Egoismus gut kennt, weiß, dass er keine Chance auslässt, seinen Nutzen zu maximieren. Ich muss also zusehen, dass die Erde bewohnbar bleibt, oder hoffen, dass es andere Orte gibt, um andere Male jemand oder etwas anderes zu sein. Es soll die Zukunft nicht etwas sein, das ich anderen nur mitgeben kann, weil ich abtrete, sondern etwas, das mir in Form eines Personenwechsels auflauert, wenn ich gestorben bin. Da ich aber nicht weiß, was dieser Wechsel an Zufälligkeiten bringt, da es in ihm keine Übergabe und Übernahme von etwas gibt, muss ich rationaler vorgehen.

Der Tod als letzte große Frage der Gerechtigkeit

Es bietet sich an, den Tod einfach als Schleier des Nichtwissens (John Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit) zu deklarieren. Das heißt, dass mir kein für zukünftige Vor- und Nachteile relevantes Wissen vorliegt, sprich ich weiß nicht, wer "Ich" sein werde und in welche Umstände ich hineingeboren werde. Ich bin nur ich mit kleinem "i", stehe für mich selbst, aber ohne zu wissen, was das ist. Ich möchte nur ein optimales, faires und gerechtes Gesamtkonzept, in dem ich zufrieden sein kann, wer auch immer ich einmal sein werde. Genauso können wir den Tod, den wir erleben müssen, aufgreifen als eine letzte große Frage: Was ist eine faire Gesellschaft? In der, wenn man stirbt und als anderer aus der namenlosen Benommenheit „aufwacht“ ohne wiedergeboren zu sein, als ewig neuer Neuling im Universum, zumindest die Grundgerechtigkeit herrscht, dass auch der, den das Los am schlechtesten trifft, angesichts der Ungleichheiten den besten relativen Erfolg hat? Eine dynamisch-kommunistische Gemeinschaft, die zwar Ungleichheit zulässt oder vielmehr die Realität ungleich sein lässt, diesem Status Quo aber weder zuspielt, noch ihn absegnet, sondern die möglichen und vertretbaren Gewinne der Besten an die noch höheren Gewinne und Zuwächse der Schwächsten koppelt? Rawls stellt seine Theorie der Gerechtigkeit als logisch begründet, aber letztlich als ein fiktives Programm dar, das uns an ideale Verhältnisse erinnern soll. Der Vorteil seiner Konzeption ist die Anbindung an den Egoismus und dessen gleichzeitige Instrumentalisierung für das Gerechte. Demgegenüber wäre meine Idee, den Egoismus herauszufordern, über eine mögliche zukünftige Existenz nachzudenken und dann eine solche Instrumentalisierung vorzunehmen. Das Gerechte wäre damit auch die lebbare und faire Zukunft nach meinem Tode – um, eventuell, meiner selbst willen.



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11 Kommentare:

  1. Es liest sich im Moment, im ganz spontanen Moment, der mit meinen nächsten Aktionen wieder verschwinden wird, sehr schön. Ich empfinde Begeisterung für den Moment dieses Lesens, das Jetzt, obwohl ich mich Morgen schon wieder anderen Dingen zuwende. Aber das Schöne daran ist, dass mir der Inhalt wichtig ist, weil ich ja doch danach gesucht habe, ohne es zu wissen. Auch mal loslassen zu können, obwohl mein Begriff LOSLASSEN hier viel zu abgedroschen klingt. In der Wandlung und Veränderung etwas schönes zu sehen trifft es so für mich nun auch besser. Wenn der Tod in das Leben sozusagen integriert auch einen Sinn ergibt, wenn ich mir beispielsweise die Frage stelle: Wenn ich sterbe, ob es wichtig war welche Bedeutung ich für diese Welt hatte, die ich persönlich also egoistisch gesehen ja nur für meine nähere Umgebung hatte und was ich für eine Rolle angenommen habe oder annehmen wollte. Wenn ich es aber als schöne Vision oder Ideal betrachte ist das ja nicht alles. Dass die Lebenszeit begrenzt ist, macht vieles zunichte, denn die Herausforderung auch mal über den Tod hinaus zu denken schließe ich völlig aus, wenn ich nur bis zum Todeszeitpunkt denke als den Abschluss aller meiner Möglichkeiten. Eigentlich logisch, dass ich nur immer wieder so denke, denn ich bekomme ein schlechtes Gewissen, wenn ich es auch nur wage über meinen Tod hinaus zu denken. Ich meine fast, dass ich da gesellschaftlich gesehen ja als Größenwahnsinnige dastehe.

    Warum sollte ich mir also nicht doch die Freiheit nehmen, darüber hinaus zu denken? Denn so kann der Idealismus entstehen, die Begeisterung für eine schöne Welt, die ich, wenn ich sie verlassen muss, auch gerne als schöne Welt verlassen haben möchte. Nämlich dann kann ich sagen, das Leben hat sich gelohnt und könnte jedem ICH, jeder Person, nicht nur mir, eine solche Welt wünschen wie ich sie hier vorgefunden habe.

    Nicht nur dafür zu sorgen, dass während der persönlichen Lebenszeit die Existenzsicherung läuft, aber alles Weitere weiß ich nicht, hat dann auch 100%ig nichts mehr mit mir zu tun? Ich kann nur so auf diese Art nach den Vor- und Nachteilen eine Lebensrechnung aufstellen, die immer nur auf eine Epoche begrenzt sein kann? Meine Antwort lautet dann aber auch resigniert: Ja, dann war mein Leben und meine Epoche sehr kurz und nach mir die Sintflut. Wohl bekommens beim glücklichen Tod, aber ich hab ja mein Bestes getan für mein Leben und diese Epoche und ich bin nicht größenwahnsinnig oder gar Gott. Ich ahne, dass das der Irrtum ist, auf den die Menschheit immer wieder hereinfällt. Alles dreht sich nur um die eigene Existenz, weil die Lebenszeit begrenzt ist, wir nicht Gott sind, denn sonst hätten wir ja gleich selbst das Paradies erschaffen. Man denkt das Paradies wäre weit entfernt. Aber Gerechtigkeit, eine faire Zukunft sind Bestandteile daraus und die menschliche Schöpfungskraft und und Visionen, die ich mir nur von diesem ach so schrecklichen Tod nicht begrenzen lassen möchte. Diese Gedanken sind kein Größenwahnsinn, sondern etwas wunderbares, das zur Existenz dazugehört und nicht ausgeschlossen bleiben muss, weil nur Phantasie. Sicher, es ist nur Luft, aber meine Existenz braucht auch diese Luft.

    Deswegen finde ich den Kommentar auch so schön, weil man die Luft als unwichtig völlig aus dem Leben ausblendet. Aber es ist Sauerstoff.

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    1. "Ich ahne, dass das der Irrtum ist, auf den die Menschheit immer wieder hereinfällt. Alles dreht sich nur um die eigene Existenz, weil die Lebenszeit begrenzt ist, wir nicht Gott sind..."

      Es ist gut, diese Einsichten zu haben, aber auch tragisch... Mir fällt nichts ein, das diese Kurzsichtigkeit jemals in ausreichendem Maße heilen könnte.

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    2. Ich sehe das auch so, dass die Art, wie wir die Begrenztheit erleben und mit ihr lebenslang als Kontingenz kämpfen, viel von dem ausmacht, was uns vom Paradies trennt. Aber das Paradies ist ja selbst eine Art Kontingenzbewältigung, wie es Religionswissenschaftler nennen, die pure und nach Kant auch gerechtfertigte und deduzierbare Hoffnung darauf, einmal für widerfahrenes Unrecht proportional entlohnt zu werden.

      Dass wir nicht Gott wären, dem könnte man sicherlich erst einmal die Frage voranstellen, was Gott sei, und was wir demgegenüber sein sollen. Gott ist für mich persönlich meist das überlegene Prinzip, das in sich praktische Anweisungen enthält, was wir zu sein haben oder was wir sein sollten. Das uns eine Essenz an die Hand gibt, die wir vollbringen müssen. Seit dem 20. Jahrhundert (Nietzsche hat dem vorgearbeitet) gilt das aber nicht mehr unbedingt. Wir können uns auch als Nichts ansehen, das zuallererst gefüllt werden muss durch einen subjektiven Entwurf. Das gerade ist auf Basis der vorangegangen Definition nichts anderes als Gottwerdung. Nietzsche hat das leider mit Übermenschlichkeit besetzt und mit der Vorstellung, es gäbe Menschen, die von sich selbst aus niemals ihre Gebundenheit an eine Essenz auflösen würden, die Untermenschen. Das führt zu einem Schema des Klassenkampfes, den Nietzsche selbst vorhersah. Ich sehe das ganz anders: Entweder werden wir alle Gott oder keiner. Auch vermeidbare Ungleichheit und Ungerechtigkeit zwischen Menschen wäre nämlich immer noch eine Essenzvorgabe, an die man sich bequem hält, stünde der Gottwerdung also im Wege.

      Gerade hier nehme ich mir die Freiheit, nicht nur über den Tod hinaus zu denken, sondern von einem neuen, radikalen Anfang aus zu denken. Es ist im Grunde nur ein kleiner Hebel, der gedanklich betätigt werden muss, ob ich Personen in der Zukunft die keine Schnittmenge mit meiner Lebenszeit hat, als Begrenzung meiner Person erfahre oder gerade als dessen Grenzauflösung. Was immer gewährleistet ist und uns niemand nehmen kann, ist unsere Eigenartigkeit, unsere Idiosynkrasie, wie auch immer die Frage der Einmaligkeit entschieden wird. Das meinte ich mit dem Flussbett: Wenn wir uns immer nur mit dem gleichen Ablauf von gleichen Dingen umgeben, wie etwa Tag-Nacht-Wechsel, Aufstehen, Zähneputzen, Alltag usw., dann sehen wir nicht all die Veränderung und Veränderlichkeit und sehen das Seiende zwar als Schauspiel der Dinge, aber wir sehen uns eher als Zuschauer denn als mitwirkende Schauspieler. Und diesen Zauber will ich relativieren. Ich möchte natürlich auch eine schöne Welt hinterlassen für die Menschen, die ich aus meiner jetzigen Sicht nicht bin, die ein anderes Dasein haben werden als momentan-ich. Aber ich will nicht von Hinterlassenschaft reden, denn das bedeutet, dass ich mich für immer verabschiede und den Tod als Teilnahmslosigkeit denke. Wir begraben zwar Menschen physisch, aber wir sollten aus unserem geistigen Verhältnis zum Tode kein Begräbnis machen. Wir müssten es eigentlich besser wissen.

      Den Idealismus spüre ich indes auch. Ich lenke ihn in die Bahn, Rawls' Theorie, die ich im Großen und Ganzen nicht falsch finde, mit der Natur statt dem Gedankenexperiment zu verbinden. Es erfordert dann keine rein praktische Vernunft und Einbildungskraft, sondern kann sich in unsere Existenzweisen, auch in unsere irrationalen, einbetten und kommt doch zum selben Ergebnis. Unabhängig davon muss ich natürlich deutlicher begründen, was genau von Rawls sinnvoll übernommen werden kann und was nicht. Eigentlich bin ich ja weniger derjenige, der einen wirtschaftlichen oder güterhaften Begriff von Gerechtigkeit pflegt, aber meines Wissens stellt Rawls das Recht auch über das Gute.

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    3. @ Gilbert Dietrich:

      Ich glaube an das Gute und Überraschende im Menschen, vor allem da alle Tragik auch immer Katharsis enthält. Natürlich stelle ich mich weder auf optimistischen noch pessimistischen Boden, als ob ich schon alles wüsste. Offenheit und Gelassenheit sind für mich Momente dieser Katharsis, denn die Existenz hat nicht nur etwas Ethisches, das man vorsehen und abwägen kann, sondern auch Ästhetik, die nur dann sie selbst ist, insofern sie im Augenblick erfasst wird. Wichtig ist, dass man dann auch empfänglich dafür ist. (Ethische) Kurzsichtigkeit wäre für mich weniger das Problem als Unempfänglichkeit für Irritation und Umschläge des Seins. Das Wort heilen macht in einer Welt Sinn, die potenziell sündig (vor einem höheren Prinzip als Essenz, siehe oben) gedacht wird. Eine heile Welt wäre gottgefällig, aber sicherlich darum umso weniger selbst entworfen. Wir müssen nur noch herausfinden, was genau an der Tatsache, dass wir selbst unsere Essenz herbeiführen könnten, ein nicht leeres Schaffensprinzip ist, sondern konkrete Möglichkeiten absteckt, sich in ihnen erfüllen kann und nicht in der Mannigfaltigkeit versinkt. Das einzige, was hier einen Dämpfer versetzt ist, wenn man immer wieder sieht, wie Menschen nicht dazu lernen aus der Geschichte, dass sie sie einfach wiederholen. Weil sie sich zwar als daseiend verstehen, aber nicht als zufällig und prinzipiell immer wieder in irgendeiner Form hineingenommen in das Sein. Das Ganze (die Geschichte, die Welt) ist keine summarische aufwärtsgerichtete Verallgemeinerung des Individuellen, sondern auch selbst ein jeweils Individuelles, ein Moment, in dem sich das Universum so oder anders entscheidet und eine einmalige Situation entsteht: die Welt als Individuum und der einzelne Mensch als Universum.

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    4. Daniel, da wir gerade von Ethik und Ästhetik sprechen, würde ich dir gern auch diesen Text ans Herz legen: Der finstere Berg.

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    5. Danke für den Texthinweis. Ich habe das mit Gewinn gelesen und werde ggf. unter dem Text einen Kommentar schreiben. :)

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  2. Deine Gedanken begeistern. Ich habe mich vor über einen Jahr auch mal auf diese Gedankenreise begeben (Palingenesie), und eigentlich befinde ich mich heute noch auf dieser. Auch wenn man im Gesamtbild das egoistische Denken abzuschalten hat, so hat es doch Werte, die man für sich persönlich heranziehen kann. Meine persönlichen Gedanken erstrecken sich auf unzählige Träume, die mich - unterbewusst und ungewollt - leiten. Es ist ein inneres (Ge-)Wissen, dass einem antreibt, und so sollte es auch sein.

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    1. Vielen Dank!

      Ich habe mich viel an Vorstellungen der Seeenwanderung orientiert, aber bin doch darüber hinaus gegangen. Was mit unserer Seele nach dem Tod passiert, ist eine Frage, die die Seele als Substanz begreift im Unterschied zum Körper, und dann wiederum Probleme aufwirft, inwiefern diese Substanz selbst auflösbar ist, denn Substanzen sind für sich genommen ewig.

      Meine andere Art, diese Frage zu lösen, ist, sie aufzugeben. Ich für mich, als meine eigentümliche Seele und Sichtweise auf die Welt, gehe nicht über meinen Tod hinaus, vielmehr erfülle ich mich in meinem Tod. Es hat ein Ende, insofern meine subjektive Form erfüllt ist und meine Aktivität damit beendet wird. Es ist nur so, dass wir dabei stehen geblieben sind, den Stopp dieser Existenz mit dem logischen Vermeiden einer völlig anderen Existenz zu verbinden. Das hat zur Folge, dass alle, auch zukünftige Personen, schon singulär Eingang in die Existenz finden, also irgendwie abgezählt oder einer bestimmten Zeit, die Ihre ist, zugeteilt sind. Und demnach wären mir zukünftige Lebewesen fremdpsychisch so unzugänglich wie alle Lebewesen, die mit meiner Lebenszeit koinzidieren. Diesen Schluss finde ich unglaublich voraussetzungsreich, fast religiös oder mystisch. Viel naheliegender wäre es für meine Begriffe, den zukünftigen Lebewesen, ohne ihnen die Individualität oder inhärente Einmaligkeit abzusprechen oder dasselbe bei meiner Person zu tun, d.h. nur aufgrund des zeitlichen Unterschieds keine völlige Fremdheit zuzuschreiben, womit ich sie auf jeden Fall antizipieren würde.

      Meine Gedanken haben auch die notwendige Konsequenz, da ich hier den reinen Zufall akzeptiere, dass unsere nächste bewusste Existenz außerhalb dieses Sonnensystems sein kann, es gibt wie gesagt keine Wiederholung. Und dazwischen werden sich wohl auch einmal Existenzen abspielen, die nicht so bewusst sind. Ich kann nicht sagen, ob mit dem Tod einer Person sofort eine Sekunde später die Geburt einer anderen für diese zukünftige Existenz relevant wird. Aber wenn zehn Menschen sterben, und ein einziger neuer Mensch geboren wird, dann gibt es nicht minus zehn plus eins, sondern dann gibt es automatisch nur neun Menschen weniger, trotz der neuen Individualität des 11. Menschen. Die Zeit vertilgt, das Aufrechnen durch die Zeit hindurch ist nicht sinnvoll. Natürlich soll das nicht der psychischen Verlusterfahrung von Personen Abbruch tun, die ja ganz an einem individuellen Menschen festhält. Ich möchte keine Trauer über verstorbene Menschen abmildern oder absurd machen. Ich möchte nur Hoffnung auf eine weitere Existenz geben und den Mut, diese auch egoistisch anzupeilen.

      Und am nützlichsten an der Konzeption scheint mir, dass wir ein Nicht-Existieren ersetzen können durch ein Nicht-Wissen. Ein benommenes, unbestimmtes Sein, das das Wegsein ersetzt. Wir können somit eine Gesellschaft fokussieren, in der zwar egoistisch: D.h. ich möchte eine Zukunft in der ich als Anderer/Andere gut leben kann, aber eben doch auch völlig nicht-egozentrisch und fair gehandelt wird, da ich nicht weiß, welchen Status meine zukünftige Existenz hat. Sie ist nicht präfiguriert, sie ist unwissbar. Daher hat mein Egoismus nur das rationale Ziel, dass es allgemein keine Ausbeutung gibt, sondern gerade im Gegenteil einen Wohlfahrtsgedanken für die, die es schlecht haben.

      Was sind Ihre Gedanken zum Thema Palingenesie? Können sie Ihre Träume kommunizieren?

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    2. Da muss ich glatt mal meine Brille putzen ^^. Das waren jetzt vielen Gedankengänge.
      Im Grunde kann ich darauf nur religiös antworten, den anders verrenne ich mich. Und eigentlich ist es gar nicht so religiös, zumindest muss es nicht so wirken. Und gerade deswegen ist ein immerwährender Kreislauf auf Erden aus dem rein Materiellen grundsätzlich unbestritten vorhanden, solange dieses Rund existiert. Und es existiert ja jetzt schon sehr lange. Das beinhaltet viele Möglichkeiten, und offenbart sie uns auch. Ich kann daher meine Träume kommunzieren, aber ich tat es bislang noch nicht, da für die Verständnis erst einmal einige grundlegende Dinge klargestellt werden müssen, um sie nicht für eine Unlogik zu halten. Ich habe dafür auf meinen Blog Anfang des Jahres eine Reihe gestartet, die sich Die 3 Seelen nennt. Vielleicht interessiert ja der Einblick. Es ist allerdings viel Lesestoff.

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  3. Sehr interessant gesagt, ich glaube zwar nicht an Schicksal aber wenn Zeit (physikalisch) nur relativ ist, dann hast die diese Determination sehr poetisch beschrieben.

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  4. "...wir sind auch die Monaden, die zugleich das ganze Universum spiegeln, wie Leibnitz es einmal deklariert hat. Wir sind das jetzige Universum und das Universum ist eine Gesellschaft von Monaden, die es spiegeln. ..."
    Noch ein Kurzkommentar, dass diese Passage für mich das Essenzielle ist. So wie ein Mantra, das ich gerne in meine alltäglichen Gedanken und Momente einschließen möchte.

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