1. Oktober 2022

Critical Thinking

Was heißt es, kritisch zu denken?

Wir fordern andere – seltener uns selbst – oft auf, kritisch zu denken. Nur, was bedeutet das eigentlich? Wie können wir kritisch denken? Dieser Artikel bietet einen allgemeinen Überblick darüber, was es heißt, ein kritischer Denker zu sein, und skizziert sowohl traditionelle als auch neuere Ansätze des kritischen Denkens.

Dieser Text der Philosophin Carolina Flores erschien auf 1000-Word Philosophy auf Englisch und kann dort im Original mit Fußnoten gelesen werden.

Wenn "p" und "aus p folgt q" dann "q" (Wikipedia CC BY-SA 4.0)

1. Was ist kritisches Denken?

Allgemein gesprochen besteht kritisches Denken darin, auf sorgfältige Weise zu argumentieren und zu hinterfragen, um die eigenen Überzeugungen auf der Grundlage guter Gründe zu bilden und zu aktualisieren. Ein kritischer Denker ist jemand, der typischerweise auf diese sorgfältige Weise argumentiert und nachfragt, relevante Fähigkeiten beherrscht und die Neigung entwickelt hat, sie anzuwenden.

2. Traditionelle Komponenten: Logik und Irrtümer

Traditionelle Ansichten des kritischen Denkens konzentrieren sich auf deduktive Argumente. Argumente sind eine Reihe von Gründen, die für eine Schlussfolgerung angegeben werden. Deduktive Argumente sind Argumente, bei denen die angegebenen Gründe logisch schlüssig sein sollen, d.h. die Schlussfolgerung garantieren sollen. Das Folgende ist z. B. ein deduktives Argument:

  1. Sokrates ist ein Mann.
  2. Alle Menschen sind sterblich.
  3. Daher ist Sokrates sterblich.

Durch deduktive Argumente zu neuen Überzeugungen zu gelangen, ist eine Möglichkeit, Überzeugungen auf der Grundlage guter Gründe zu bilden. Dementsprechend konzentriert sich kritisches Denken traditionell auf diese Fähigkeiten:

  • Argumente von bloßen Behauptungen, rhetorischen Fragen und Manipulationsversuchen (z.B. durch irrelevante Überlegungen) zu unterscheiden;
  • Ziehen von Schlussfolgerungen aus Argumenten und das Verstehen der Gründe oder Prämissen für diese Schlussfolgerung;
  • Rekonstruieren kurzer und vollständiger Argumentation in Standardform (siehe das Sokrates Beispiel oben);
  • Erkennen der logischen Struktur deduktiver Argumente – wenn z.B. die Prämissen wahr sind und die Schlussfolgerung falsch, dann stimmt die logische Struktur nicht
  • Verstehen, welche Behauptungen aus den Argumenten folgen
  • Bestimmen, ob Prämissen wahr oder wahrscheinlich sind;
  • Ausdenken und Vorschlagen möglicher Einwände gegen die eigene Behauptungen und das wohlwollende reagieren auf Einwände anderer

Um diese Fähigkeiten zu entwickeln, lernen und üben Schüler und Studenten der Philosophie typischerweise Aussagenlogik und das Argumentieren. Dabei lernt man auch, Fehlschlüsse zu erkennen, also fehlerhafte Argumentationsmuster, die täuschenderweise als gute Argumente erscheinen. Beispiele für solche Fehlschlüsse sind:

  • Non sequitur (es folgt nicht): "Wenn du den Preis gewonnen hättest, dann hättest du eine Eins gehabt. Du hattest eine Eins und hast also den Preis gewonnen."
  • der Ad-hominem-Fehlschluss, bei dem Menschen die Person angreifen, die das Argument vorbringt, anstatt das Argument.
  • Petitio Principii (Inanspruchnahme des Beweisgrundes): Gründe für eine Schlussfolgerung anbieten, die die Schlussfolgerung bereits implizieren.

3. Zusätzliche Hilfsmittel: Nachweise und Statistiken

Wir bilden oft Überzeugungen auf der Grundlage von Beobachtungen. Beobachtungen liefern im Gegensatz zu deduktiven Argumenten keine schlüssigen Gründe für eine Überzeugung: zum Beispiel schlussfolgern wir, dass jemand mit laufender Nase einen Schnupfen hat. Solche Beobachtungen können die Annahme als Indizien zwar unterstützen, aber nicht die Wahrheit dieser Annahme garantieren.

Kritische Denker können ihre Überzeugungen angesichts neuer Beweise angemessen anpassen. Auf einer Meinung beharren zeugt hingegen nicht von kritischem Denken. Kritisches Denken erfordert die Entwicklung von Fähigkeiten wie:

  • das Beurteilen von Beweise, ohne sich übermäßig von dem beeinflussen zu lassen, was man bereits glaubt
  • das Erkennen, wann eine Behauptung als Beweis (nicht nur Indiz) für oder gegen eine Schlussfolgerung gilt
  • das Identifizieren von starken und schwachen Beweisen

Außerdem kann es hilfreich sein, sich auf Wahrscheinlichkeitswissen zu stützen, um eigne Überzeugungen zu beurteilen. Beispielsweise kann es sein, dass eine Beobachtung, die wir machen, dann wahrscheinlicher ist, wenn unsere Überzeugung wahr ist. In solch einem Fall ist die Beobachtung ein starkes Indiz für die Wahrheit unserer Überzeugug. Auch die Validierung unserer neuen Überzeugungen mit Hilfe der Fragen, wie zuversichtlich wir in unserer vorherigen Überzeugung waren und wie stark die vorhandenen Informationen unsere neue Überzeugung stützen, nutzen Elemente aus der Wahrscheinlichkeitstheorie.

Neuere Ansätze zum kritischen Denken nehmen oft Techniken aus Wahrscheinlichkeitstheorien in Anspruch. Und da wir oft Beweise in Form von Statistiken erhalten, die oft durch Diagramme und Grafiken dargestellt werden, kommt den grundlegenden statistischen Konzepten und den Fähigkeit, Diagramme und Grafiken zu interpretieren, beim kritischen Denken zunehmend Bedeutung zu.

4. Fähigkeiten und Tugenden des kritischen Denkers

Ein kritischer Denker zu sein, erfordert mehr, als nur technische Werkzeuge wie die der Logik oder der Wahrscheinlichkeitstheorie im Arsenal zu haben. Man muss diese Werkzeuge konsequent im Alltag anwenden.

In den jüngsten Diskussionen darüber, was es heißt, ein kritischer Denker zu sein, wurde der Schwerpunkt verstärkt darauf gelegt, unsere Informationsumgebungen (z.B. das Internet, Bücher, Gespräche) auf geschickte Weise zu navigieren. Dazu müssen falsche, irreführende, manipulative oder ablenkende Informationen in diesen Umgebungen vermieden und darauf geachtet werden, dass man Informationen aus einer Vielzahl zuverlässiger Quellen sammelt. Es erfordert auch, das eigene Vertrauen gut zu kalibrieren: Man sollte offen dafür bleiben, diejenigen anzuhören, die anderer Meinung sind, und nicht zulassen, dass Vorurteile und implizite Voreingenommenheit Einfluss darauf nehmen, wem man vertraut.

Die Anwendung der Werkzeuge des kritischen Denkens während des gesamten Lebens erfordert die Überwindung von bequemen Gewohnheiten, z. B.:

  • Nicht immer gleich den Gedanken akzeptieren, der einem zuerst in den Sinn kommt
  • Bewusst Abstand davon nehmen, Informationen so zu sammeln und zu interpretieren, dass sie unsere eigenen Überzeugungen bestätigen (Bestätigungsfehler)
  • Nicht so zu argumentieren, das uns das, was wir uns wünschen, als wahr erscheint (Motivated Reasoning), sondern unvoreingenommen vorzugehen.

Um kritische Denker zu werden, müssen wir im Allgemeinen von einer defensiven oder sich nur selbst bestätigenden zu einer wahrheitssuchenden Denkweise wechseln. Und wir müssen denkerische Tugenden wie intellektuelle Redlichkeit, Demut und aufgeschlossene Neugier entwickeln. Ohne diese Tugenden können die Werkzeuge des kritischen Denkens sogar so eingesetzt werden, dass sie falsche oder unvernünftige Überzeugungen bedienen.

5. Schlussfolgerung

Beim kritischen Denken geht es darum, zu argumentieren und zu hinterfragen, um die eigenen Überzeugungen auf der Grundlage guter Gründe zu bilden und zu überprüfen. Fähigkeiten zum kritischen Denken sind besonders in einer Welt wertvoll, die uns mit zu vielen Informationen konrontiert, die nicht alle gleichermaßen verlässlich  oder gar wahr sind. Für uns als Menschen und Bürger ist es also auf ganz praktische Art nützlich, ein kritische Denker zu sein.

Selbstverständlich ist das kritische Denken auch von entscheidendem gesellschaftlichen und politischen Wert: Eine gut funktionierende Demokratie ist darauf angewiesen, dass ihre Bürger möglichst unvoreingenommen und kritisch über die Welt denken. Das kritische Denken hat in politischer Hinsicht auch ein großes befreiendes Potenzial: Es gibt uns Werkzeuge an die Hand, um repressive soziale Strukturen zu kritisieren und eine gerechtere, fairere Gesellschaft ins Auge zu fassen.


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3 Kommentare:

  1. Danke für den Überblick über dieses komplexe Gebiet. Ich bin durch mein Studium ein bisschen durch die Frankfurter Schule geprägt und deswegen fehlt mir hier der Hinweis, dass auch gute Beobachtungen (und Statistiken sowieso) fehlleitend sein können. Wir neigen oft dazu, jegliche empirische Beobachtung als "wissenschaftliche Untersuchung" unkritisch anzunehmen. Ich finde es wichtig, sich daran zu erinnern, dass ein Phänomen, nur weil ich es gerade so beobachte, nicht "die Wirklichkeit" sein muss, sondern dass diese Beobachtung ja schon ein Resultat unserer konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, der Fragestellung, meiner Beobachterposition etc ist. Durch deine Hinweise auf Petitio Principii und Motivated Reasoning (die Begriffe kannte ich noch nicht, danke!) hast du das ein bisschen angerissen, aber ein bisschen mehr Skepsis an der Empirie hätte mir noch besser gefallen. Grüße, Hannah

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    1. Danke für die Ergänzung, Hannah! Im Grunde gäbe es ja wirklich noch viel mehr zu sagen. Gerade starb Bruno Latour, dem hier bestimmt auch gefehlt hätte, dass das Eigentliche des Beobachteten gerade erst zwischen ihm und dem Beobachter ausgemacht werde... denn alles befinde sich in einem Netzwerk der Relationen und wirke unaufhörlich aueinander ein.

      Im Text oben aber soll es erst einmal darum, erste Hilfe zu leisten, um die gröbsten Fehler im Denken oder Argumentieren zu vermeiden.

      Ich würde mich freuen, bei Gelegenheit wieder einmal von dir zu lesen.

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  2. Danke für deine Antwort! Ja, da hast du recht, bei diesem riesigen Thema muss man einfach ein paar Abstriche machen. Ich würde mich auf jeden Fall über weitere Beiträge zum Denken und Kritischen Ansätzen freuen! LG Hannah

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