Wie im Leben allgemein - in der Natur, in der Wirtschaft, im Umgang mit dem eigenen Körper und seinen Reserven - spielt die Kategorie der Nachhaltigkeit auch bei der psychischen Befindlichkeit von Menschen eine grundlegende Rolle. Im Begriff Nachhaltigkeit - und noch deutlicher im englischen Wort sustainability - steckt eine nicht von der Hand zu weisende Logik: Unser Leben ist auf Selbst- und Gattungs-Erhalt ausgerichtet und das gelingt uns nur, wenn wir es verstehen, so mit unseren Resourcen umzugehen, dass wir ausreichend lange Zeitspannen ohne extreme Nöte verleben können.*
Wenn Sie wiedereinmal eine Entscheidung treffen, sei es einen Kredit aufzunehmen, eine persönliche Beziehung einzugehen oder einen anstrengenden Job anzunehmen, dann fragen Sie sich: Kann ich das auf Dauer durchhalten? Wenn die Antwort "nein" ist, dann können Sie gleich ehrlich zu sich sein und es entweder bewusst als Übergangslösung in Kauf nehmen (anstrengender Job) oder gleich als nicht nachhaltig ablehnen (zu hoher Kredit).
In vielen Sitzungen mit Klienten fiel mir diese Grundkategorie immer wieder auf: Verhalten und Befinden waren nicht über eine ausreichend lange Zeitperiode (beispielsweise über die Dauer eines Arbeitslebens oder einer Ehe) aufrecht zu erhalten. Wenn wir uns das nicht bewusst machen, wird es zum Problem. Jemand, der sich auf Arbeit konsequent verbiegen muss, um ins System zu passen, kann das nicht bis zur Rente ohne Schäden durchhalten. Ein Ehepaar, dass immer wieder heftig streitet, kann dieses Leben und den damit verbundenen Energieaufwand nicht ewig aushalten, ohne unglücklich zu werden. Also fing ich an, meine Klienten zu fragen: "Wie lange, denken Sie, können Sie das durchhalten?"
Diese Frage führt in vielen Fällen zur "Erleuchtung" und dadurch oft zu Einsicht und einer Änderungsabsicht. Ob das der Angestellte ist, der endlich seinem Boss sagt: "Ich kann das zwar vorübergehend machen, aber wenn du jemanden suchst, der das dauerhaft macht, müssen wir uns mal unterhalten." Oder das Ehepaar, das sich endlich zusammen setzt und diskutiert, ob sie sich nun besser trennen sollten oder ob sie eine Art und Weise finden, wie sie dauerhaft und zur beiderseitigen Zufriedenheit zusammenleben können.
Diese Kategorie, so könnte man weiter argumentieren, liegt auch dem Problem der "seelischen Gesundheit" zugrunde. Depression kann beispielsweise in Kriegssituationen, wo um einen herum Gewalt und Hunger herrschen, als Selbstschutz kurzzeitig funktionieren und somit sinnvoll und gesund sein. So wie Krieg und Hunger aber keine nachhaltigen Lebenssituationen sind, wird auch die Depression zur bedrohlichen Krankheit, wenn sie langfristig besteht. Der Trick in der "seelischen Gesundheit" ist, reduziert ausgedrückt, dass sie ein auf Dauer gestelltes Leben ermöglicht, in dem wir ausreichend funktionieren, um uns und unsere Nächsten zur Zufriedenheit zu versorgen. Den Anti-Psychiatern, die meinten, es gäbe keine Verrückten oder psychisch Kranke, sondern nur unangepasste Menschen, kann man widersprechen oder nicht. Die Kategorie der Nachhaltigkeit löst dieses Problem aber auf: Wenn jemand auf verrückte Art kreativ und unangepasst ist, dann ist das ok, wenn er es versteht, mit sich und seinen Mitmenschen zusammenzuleben, ohne permanente Verzweiflung hervorzurufen.
* Die kosmische Ironie hier ist, dass wir uns in einem Weltall befinden, dass nicht nachhaltig ist, weil es eben eine Explosion ist. Nur die astronomischen Zeiteinheiten lassen uns kurzfristig eine Insel der Nachhaltigkeit auf einem Planeten mit Biosphäre einrichten. Mit anderen Worten: Nachhaltigkeit ist nur dort eine Grundkategorie, wo sich Lebewesen befinden.
Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.
6. März 2010
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