6. Mai 2016

Ein überraschendes Merkmal tiefgründiger Wahrheiten

Die Weisheit des Ergänzungsprinzips

Wir kennen das alle aus dem Alltag, sei es zu Hause oder auf der Arbeit: Es geht darum, Recht zu haben und Recht zu behalten. Menschen tun absonderliche Dinge dafür. Im Job werden Projekte samt Budget gegen die Wand gefahren, im Privatleben gehen Partnerschaften zu Grunde, im schlimmsten Fall brechen Kriege aus und Menschen sterben. Und alles nur, damit irgendwer Recht behält. Aber was ist das schon, "Recht behalten"? Nirgends führt irgend jemand ein Konto darüber, wie oft wir Recht hatten oder uns irrten oder gar unsere Meinung änderten. Es ist doch nichts weiter, als ein kindischer und zerstörerischer Selbstbehauptungstrieb, der dahinter steht. Je unreifer und egomanischer eine Person ist, desto rechthaberischer. Sie verwechseln Recht behalten damit, eine Persönlichkeit zu sein.

Licht: Partikel oder Welle? Thomas Young kam 1799 der Welle auf die Spur.

Dabei ist es genau umgekehrt: Nur, wer offen zugeben kann, nicht im Besitz der Wahrheit zu sein, zeigt eine gereifte Persönlichkeit und bekommt Zugang zu einer größeren, integrativen Wahrheit. So weit, so gut - ihr habt jetzt sicher genickt, als ihr die Zeilen gelesen habt, auch wenn ihr euch im Alltag anders verhaltet. Das ist ok, denn ich habe diese Zeilen geschrieben, obwohl ich mich ständig anders verhalte. Es kommt darauf an, sich langsam in die richtige Richtung zu begeben. Frank Wilczek, Nobelpreisträger für Physik (für "die Entdeckung der asymptotischen Freiheit in der Theorie der Starken Wechselwirkung" im Jahr 2004), hat mir jetzt dabei geholfen, auf diesem Weg in die richtige Richtung, ein gehöriges Stück voran zu kommen. Wilczek sagt nämlich:

"Eine tiefgründige Wahrheit kann man daran erkennen, dass ihr Gegenteil ebenfalls eine tiefgründige Wahrheit ist."

Ist das nicht ein schöner Satz? Aber ich glaube, man muss ihn erklären, denn er widerspricht unserem Verständnis zweiwertiger Logik. Zum einen darf man sich von diesem Satz nicht verführen lassen; z.B. folgt aus ihm nicht, dass alles, was widersprüchlich erscheint nun gleich auch eine tiefgründige Wahrheit wäre (eine bei Verschwörungstheoretikern beliebte Denkoperation). Zum anderen bezieht Frank Wilczek sich auf sein Spezialgebiet Physik und lässt sich daraus inspirieren, dieses Prinzip in den Alltag zu übernehmen. Es geht dabei eben nicht um Widersprüche, sondern um Ergänzungen. Wahrheiten werden dabei als abhängig von ihrem Kontext begriffen und ergänzen sich vielmehr, als dass sie sich widersprechen. Im Kontext der zweiwertigen Logik gilt weiterhin, dass ein Satz und sein Gegenteil nicht gleichzeitig wahr sein können.

Komplementäre Wahrheiten

Im Interview Why is the World so Beautiful greift Wilczek das für die moderne Philosophie große Rätsel auf, dass wir einerseits die Freiheit zu haben scheinen, Entscheidungen zu treffen und zu wählen, dass wir aber andererseits physikalisch determiniert sind, was eine solche Freiheit ausschließen würde. Erbitterte Streits werden zu diesem Paradox zwischen den philosophischen und naturwissenschaftlichen Fraktionen ausgetragen.

Was stimmt denn nun, sind wir frei oder determiniert? Frank Wilczek sagt, dass beides stimme. Es sind zwei verschiedene Weisen, unsere Erfahrungen in der Welt zu beschreiben und beide sind in verschiedenen Kontexten sinnvoll, aber sie sind nicht im selben Kontext gleichermaßen sinnvoll, sondern schließen sich in manchen Kontexten sogar gegenseitig aus. Ein anderes Beispiel aus der Physik: Besteht Licht nun aus Teilchen oder aus Wellen?

"So wohl als auch und es ist sinnvoll, das Licht manchmal auf die eine und manchmal auf die andere Weise zu beschreiben. Beides kann aufschlussreich in jeweils anderen Umständen sein. Aber es ist unmöglich, beides zugleich für wahr zu halten. Das ist die Essenz der Komplementarität: Um der Welt gerecht zu werden, musst du sie auf unterschiedliche Art und Weisen sehen."

Komplementarität oder das Prinzip der Ergänzung ist nicht nur ein Merkmal der großen physikalischen Theorien, sondern auch eine hilfreiche Perspektive im Alltag. Die meisten Menschen mögen zuerst einmal keine Widersprüche. Wir möchten die Welt auf einen Nenner bringen können und haben oft auch im Alltag Schwierigkeiten, eine gewisse Ambiguität oder Mehrdeutigkeit zu tolerieren. Wir wollen Recht haben und tun uns schwer mit dem Gedanken, dass wir und auch unser gegenüber Recht haben können, wenn wir gegensätzliche Positionen beziehen. Peter Sloterdijk sagte kürzlich in einem politischen Zusammenhang, dass "das menschliche Bedürfnis, recht gehabt zu haben und zu behalten" auf eine Nuancenvernichtung hinauslaufe. Und solch eine Vernichtung von Nuancen macht die Welt zwangsläufig ärmer.

Lektionen der Weisheit

Beim Erhalt der Nuancen, des Reichtums der Ideen, des gegenseitigen Verständnisses, der Pluralität der Meinungen und letztlich unserer menschlichen Kreativität in der Problemlösung, in den Wissenschaften und Künsten kann uns das Ergänzungsprinzig helfen. Wilczek sagt:

"Komplementarität ist sowohl ein Merkmal der physikalischen Realität als auch eine Lektion der Weisheit"

Ich stimme Wilczek zu, wenn er meint, dass ein Leben nach dem Ergänzungsprinzip interessanter und lehrreicher ist, als ein Leben nach rigiden Wahrheiten. Es macht auch mehr Spaß und erleichtert uns die Beziehungen zu anderen Menschen ungemein, wenn wir andere "Wahrheiten" neben unseren dulden können. Weise ist, wer die Welt aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann und die vielen unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen Erscheinungen jeweils in ihren Kontexten würdigen kann. Viele Perspektiven haben ihre eigenen Wahrheiten und wenn sie in der Zusammenschau keinen Sinn machen, dann kann man sie nacheinander gesondert betrachten und so die Pluralität der Welt schätzen lernen.




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4 Kommentare:

  1. Kann man den obigen noch einmal löschen, ich habe falsch kopiert, hier der ganze Kommentar:

    Schöner Artikel über ein spannendes Thema. Entsprechende Ansätze gab es auch schon immer in der Philosophie, angefangen bei den alten Taoisten über Pyrrhon bis zu neopragmatischen Ansätzen eines Rorty, wo die Kontingenz von Vokabularen genau in diese Richtung zielt. Natürlich ist die gern behauptete Überlegenheit des eigenen Vokabulars eine psychische Konstante, also eine Falle, in die jeder häufiger tappt, als ihm für gute „Nachbarschaftsbeziehungen“ lieb sein kann. Dabei wäre tatsächlich leicht zu verstehen, dass eine absolut nach den persönlichen Vorstellungen geformte Welt der Inbegriff verschärfter Langeweile wäre. Und eine vollkommene Welt, die in einem abschließenden Vokabular aufginge, wäre eine Welt ohne Zukunft, und kein Sachverhalt könnte in zwei verschiedenen Sätzen ausgedrückt werden. In diesem Sinne: Ja zum Perspektivismus.

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  2. Interessant, auch im Zusammenhang mit dem "Gegenteil der Weisheit"! (wie es auf dieser Seite beschrieben wird)

    Wenn man soviel wie nur mögliche Perspektiven als gleichwertig achtet und betrachtet, kann es schon sehr schwierig werden um noch einen feste Grundlage, eine zusammenhängende Auffassung von der Wahrheit zu behalten, wo man das Handeln nach ausrichten kann. Sogar wenn man versucht die verschiedene Erscheinungsformen der Wahrheit “in ihren Kontext zu würdigen”. Denn die Kontext ist meistens nicht so eindeutig begrenzt dass es da keine Überlappungen gibt, wo man sich gezwungen sieht, streitige Wahrheiten zusammen in der gleichen Kontext zu vereinigen!

    Obwohl dieses Streben nach Weisheit beim Denken sicherlich schön und erweiternd wirkt, habe ich den Eindruck dass es zugleich auch das Handeln mächtig erschwert. Man würde wohl ein menschlich unmögliches Mass an Weisheit brauchen, um diese Handlungsverlegenheit wieder zu übersteigen!

    Die Praxis der Offenheit für alle Perspektiven die einem irgendwie berühren oder die man sich erdenken kann, macht früher oder später das Handeln entweder unmöglich, oder sehr instabil (wenn man eben wählt um immer nach dem letzten Stand seiner "Weisheit" zu handeln), oder man wird einfach nicht mehr das Gefühl los, dass sowieso alles Handeln nicht so ganz richtig ist! Und das Nicht-Handeln übrigens auch nicht. Aus irgendeiner Perspektive, ist alles falsch! Obwohl es auch immer aus irgendeiner Perspektive richtig ist....

    Also, entweder man stapelt Schuldgefühle, oder man akzeptiert die Realität, das eben das Handeln nicht ganz richtig sein kann....
    Aber wie bitte, wählt man da nicht ganz bewusst, unmoralisch zu werden?

    Vielleicht ist es auch nur daher, dass es schlecht wäre, um Recht bekommen zu wollen, wenn man meint Recht zu haben. Könnte man wirklich ein Recht haben das absolut gut wäre, so wäre es auch ersichtlich warum es noch besser wäre, Anderen auch davon zu überzeugen: Da gäbe es noch mehr Menschen, die von dem Guten wissen und danach handeln können!
    Deswegen, obwohl ich von nichts absolute Sicherheit besitze, manchmal muss ich doch glauben, Recht zu haben; weil ich sonst immerfort entgegen mein Gewissen handeln müsste! Wenn ich aber vor mir selber wirklich glauben darf, Recht zu haben, folgt daraus auch das Bedürfnis, es auch zu behalten! Um Willen des “Guten”, das soll doch nichts mit kindisch und zerstörerisch zu tun haben? Oder doch? Glauben Kinder und Zerstören nicht wohl auch in vielen Fällen, was sie wollen wäre nur das “Gute”?
    Aber wie bitte, soll ich so noch zum Handeln kommen, oder überhaupt noch leben ohne mich ständig Vorwürfe zu machen?

    Also, irgendeine Weisheit fehlt mir da noch, um mit der eigenen “Weisheit” umgehen zu können! Während ich doch auch schon das Gegenteil der Weisheit wäre!
    Die Rezeptur für die "perfekte neurotische Existenzkrise" sieht mir so die Rezeptur zur höchsten Weisheit zum Verwechseln ähnlich!
    Schon wieder dieser Wiederspruch, irgendwie so schön und intrigierend, verwirrend und aufklärend zugleich...
    Aber es soll doch wohl eine Lösung geben? Oder sogar mehrere! Wenigstens eine Zwischenlösung, womit es sich leben lässt...und der Weg und die Suche weitergehen kann...

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    1. Na, ich denke, man darf sich da weder in die eine noch in die andere Ecke drängen lassen: Weder immer von sich selbst und seinen Wahrheiten überzeugt, noch sie ständig anzweifeln. Wir können doch fluide leben, um die Fragilität und Angreifbarkeit unserer Überzeugungen wissen und trotzdem uns nach ihnen ausrichten, wenn es uns viabel erscheint. Oder?

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  3. Ja, das sieht aus wie eine gute Idee. Das versuche ich auch.

    So lange es mir relativ gut geht, erscheint es tatsächlich so einfach. Doch neige ich dazu, alles ständig anzuzweifeln, weil ich meine Überzeugungen immer für unbefriedigend halte oder gar nicht so wirklich überzeugt bin. Vor allem also, wenn ich handeln will, aber erkenne dass es damit ein Problem geben könnte...
    Dabei sehe ich auch all zu oft, dass Andere nicht zweifeln und dann eben ein Problem verursachen dass meinetwegen völlig voraussehbar war. Aber wenn man nur lange genug darüber nachdenkt, verursacht fast alles was man machen will, irgendwelche Probleme. Um dann noch wählen zu können, sollte man von allen möglichen Problemen wissen, und dann die am wenigsten schädlichen auswählen. Leider ist diese ganze Prozedur an sich oft schön "schädlich", weil es viel Zeit und Ärger kostet, und nicht einmal immer etwas bringt. Aber, wenn man es nicht macht, kann man nicht wissen ob es etwas bringt, oder welche Probleme man sich da reinholt!!

    ...Aber, natürlich hast du Recht, meine Problematisierung hier ist sowohl ernsthaft als auch eigentlich doch nicht ganz ernsthaft...
    Du hast eben in deiner Kommentar hier viel zu wenig Wörter benötigt um das ganze Problem wegzufegen, jetzt meine ich wirklich das genaue Gegenteil der Weisheit zu sein!;)

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