7. Dezember 2014

Rasende Gedanken und 14000 Schritte im Wald

Diese Woche im Baruther Urstromtal

Was machen mit den zermarterten Ohren, den müden Augen, der überfrachteten Psyche? Weggehen! Wohin mit der in Straßenbahnen, Bussen und geschlossenen Räumen aufgestauten Energie der Beine? In den Wald! Wo kriegt die Lunge ihre Freiheit zurück, das Auge seine Farben, das Ohr sein Knacken und Rascheln? Auf ins Feld, an den See und ins Unterholz! Wie findet die Nase zurück ins Laub und hinein ins Holz, ins Moos und übers Wasser? Loslaufen, riechen! Was macht der Specht in meiner Stirn, der Eichelhäher im Baum, der laut vor mir warnt, wenn ich komme und die Kraniche, die versuchen sich unseren Blicken und der Kälte des Nordens zu entziehen? Sie heilen mich.

Kiefern auf den trockenen Dünen des Urstromtals

In der letzten Woche bin ich bei meiner Tante in Glashütte abgestiegen. Als ich nach Glashütte reinkam, empfing mich dort die 600 Jahre alte und 6 Meter starke Bosdorf Eiche. Trotz der massiven Brandschäden grünt sie jedes Jahr wieder. Glashütte selbst entstand 1716 als Glasmachersiedlung bei Baruth/Mark im Landkreis Teltow-Fläming in Brandenburg und blieb bis heute fast unberührt. Seit 1983 steht der gesamte Gemeindeteil Glashütte unter Denkmalschutz. Dementsprechend ursprünglich wirkt hier alles. Der alte Dorfkonsum mit der selbstgemachten Wildschweinwurst und dem frisch gebackenen Kürbiskernbrot, der Gasthof, die Töpferei und das Museum, alles hat sich in den denkmalgeschützten alten Häusern eingerichtet.

Hier draußen ist alles vormodern. Das Dorf sieht nicht nur aus wie im 18 Jahrhundert, es hört sich auch so an und es riecht so. Der Duft von Holzfeuern und von Stroh, das vereinzelte Bellen eines Hundes, die Schatten der vorbeihuschenden Katzen. Irgendwo schlägt jemand Holz für den Kamin. Wenn wir die Straße entlanggehen und uns jemand begegnet, bleiben wir stehen und reden. Sie reden über den letzten Markt und beschweren sich über die vielen Menschen, die kamen. Es ist ein Fluch: Leben müssen vom Geld all der Menschen, von denen man sich in diese Einöde abgesetzt hat. Meine Tante betreibt hier einen kleinen Filzladen und eine Unterkunft, in der ich abstieg, um von dort aus die Gegend zu erkunden.

Gleich hinter dem Dorf fangen Naturlehrpfade an und es erstrecken sich hektarweit die zum Teil bewirtschafteten und zum Teil sehr ursprünglichen Wälder. Vor rund 21000 Jahren hat uns das Schmelzwasser der schwindenden Gletscher die trockenen Hügel und Dünen hinterlassen, die nun von Kiefernwäldern bewachsen sind. In den tieferen Lagen sind es vor allem die Feuchtgebiete, die das Urstromtal prägen. Im Urstromtal leben nicht nur große Vögel wie Reiher, Bussard und Storch, sondern auch Wildschweine, Rehe, Füchse, Dachse und seit neustem wieder Wölfe in kleinen Rudeln.

Erlen, Birken und Eichen, wo es feuchter ist

Ich laufe in den Wald, der frisch nach Laub und Erde riecht. Die Gedanken rasen noch, wie immer, wenn plötzlich Platz da ist, wenn es zuviel Zeit gibt. Es kommt mir vor, als hätte ich einen Zeitmuskel, den ich permanent anspanne, um das Maximum aus jedem Moment zu pressen. Und dieser Muskel ist nun verspannt und kann sich nicht mehr so leicht entkrampfen. Ich lasse es geschehen, sollen sie doch rasen, die Gedanken. Irgendwann werden sie sich ausgerast haben. Irgendwann wird sich der Muskel entkrampfen.

Aus dem frühwinterlichen Wald dringt eine zähe Stille, die sich wie ein Schatten über alles legt. Ab und zu krächzt der Eichelhäer und stürzt sich, wenn ich zu nahe komme, in den nächsten Baum. Manchmal höre ich ein paar Tropfen, die wahrscheinlich in der nebelgesättigten Höhe an mickrigen Zweigen kondensierten und nun zögerlich ins Laub am Boden fallen. Meine Ohren klingen, sägen und singen ohne die gewohnten Stimuli der modern, durch so viel Maschinen wie Menschen belebten Welt, aus der ich hierher geflohen bin.

Weite Felder, Moore und Gewässer, darüber die Kraniche

Über den weiten Mooren, den diesigen Feldern mit ihren Wassergräben und den kleinen Seen, die uns die letzte Eiszeit hier hinterließ, liegt noch immer eine Menschenleere, die einen mit ihrer Schönheit erschrecken kann. Wie lange ist es her, dass ich wie hier keinen Verkehr hörte, keine Laubbläser und Hubschrauber? Ich frage mich unwillkürlich, wie ich nun wieder zurück in die Stadt finden soll, mit ihren abertausenden Menschen, die zur Zeit nichts als Glühwein im Kopf haben.

Die Augen muss ich in die Weite zwingen, sie sind nur noch die 50 bis 100 Zentimeter bis zum nächsten Bildschirm gewohnt. Während ich laufe, kleben sie nun am Boden, weil alles andere so weit entfernt ist. Ich bringe ihnen bei, wieder zu sehen, zu schauen und zu genießen. Ich zwinge sie in die Weite, den Kranichen hinterher und nach oben in die Kronen der Bäume. Sie folgen den Ohren, die plötzlich einen Specht ausgemacht haben. Ich bleibe stehen, sehe ins Geäst und denke darüber nach, wie zielgerichtet unsere Ohren funktionieren. Man müsste doch meinen, dass alles, was mehr als 20 Meter von ihnen entfernt ist, einfach nur als "da draußen" zu lokalisieren sein kann. Denken wir an unsere unterentwickelten Nasen: Ein Geruch ist entweder da oder nicht. Aber mit Geräuschen ist es anders, die Ohren können Schallwellen offenbar ganz präzise nach eintreffender Stärke und einfallendem Winkel ausrechnen. Jedenfalls genau genug, damit die Augen den Specht finden, der dort oben Löcher in den Baum trommelt. 

Mikrokosmos am Waldboden

Und dann doch wieder zurück mit den Augen von der Weite und vom großen Ganzen rein ins Kleine und Nahe. Ich falle auf meine Knie und bringe mein Gesicht ganz nah an diesen Mikrokosmos zu meinen Füßen. Es ist etwas Außerirdisches in seinen kalten Farben, den pudrig-haarigen Strukturen und den Antennenformen. Nebenan duften die obszön glatten Kuppen der erdfarbenen Pilze, die aus dem grünen Scham des Mooses an einem toten Baum wachsen. Das ist, woraus wir kommen und wohin wir gehen: Nicht Fleisch, nicht Pflanze, nicht Asche, Erde oder Staub. Eine Biomasse, die sich in kleinen unaufhaltsamen Schritten dem ewigen Kreislauf der Energie und ihrer Manifestationen hingibt, ohne Ziel und doch völlig zurecht angebetet.

Es wird kalt und durch die kahlen Bäume sehe ich die Sonne, wie sie in einem fahlen lachsfarbenen Licht zu Boden gezogen wird. Ich freue mich auf die ofengeheizte Stube, den heißen Tee, ein paar frisch gebackene Madeleines. Als ich nach 14000 Schritten oder rund 10 Kilometern Waldspaziergang am Haus ankomme, ist der Himmel dunkelblau und nur am Horizont gibt es noch einen dünnen Streifen kalten Lichts. Meine Tante hat ein Feuer gemacht, an dem wir noch für ein paar Minuten unsere Gedanken mehr als unsere Knochen wärmen. Voll von Ruhe, Weite und Stille sitzen wir und kommen ins Erzählen über das Land, unsere Familie, die Natur und unser Leben als Ergebnis all dessen. Noch vor Mitternacht kommt der große Nachtfalter, breitet seine Flügel aus und legt sich über mein Gesicht. Ich schlafe dann, als gäbe es kein Morgen und erwache erst spät am nächsten Tag.

Das wohl letzte Feuer, an dem ich dieses Jahr draußen sitze

Wenn Sie sich mal eine Weile richtig entspannen möchten, dann lege ich Ihnen diese Gegend um Baruth oder gar das verschlafene Dorf Glashütte ans Herz. Und sagen Sie Bescheid, wenn Sie Hilfe bei der Unterkunft benötigen.



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8 Kommentare:

  1. Sehr schöner Beitrag!

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  2. Das nenne ich mal Urlaub für alle Sinne. Gerade beim Thema "Störgeräusche" konnte ich richtig mitfühlen. Denn selbst wenn es ruhig in einer Stadt ist, infraschalltechnisch ist es immer laut, auch wenn wir es nicht hören. Tieffrequente Geräusche nimmt unser Körper in der Tat wahr... aber das geht jetzt ein wenig am Thema vorbei.
    Alles in allem: ein wirklich schöner Post.

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  3. Auch wenn das sanfte Rauschen des Laptop-Lüfters, das Rumoren im Rohrsystem des Hauses, die hupenden Autos und die Neonlichter nicht so natürlich sind - sie sind du! Probier's mal aus. Ohne Abgrenzung von der Umwelt ist die Überfrachtung der Psyche kein Thema mehr.

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    1. Ich mag manche Aspekte und Qualitäten meines Ichs einfach mehr als andere. Z.B. wenn es frei von hupenden Autos ist ;-)

      Gibt es also für dich keine Lebens- und Umweltzustände, die du anderen vorziehst? Dann bist du auch im westlichen Sinne absolut weise und stoisch. Gratulation, die meisten von uns kommen dort nie so komplett an.

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    2. Nein, ich versuche nur, nicht so einen großen Kontrast aufzubauen, um allein in der Natur mein Reboot-Erlebnis zu bekommen. Die in den ersten Zeilen beschriebenen Symptome hören sich somatopsychisch bedenklich an.

      Auch wenn die Vorstellung, ein Aufenthalt in der Natur befreie oder reinige, sehr verbreitet ist, im Umkehrschluss muss die Zivilisation ja beinahe zumüllen. Aus ontologischer Sicht ist das vielleicht nicht das Klügste, von 24/7 sind locker 16/5 Zivilisation.

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    3. Da ist was dran, Zivilisation hat vieles für sich und strenggenommen gibt es heute keinen Wald mehr, der nicht auch Zivilisation wäre.

      Aber diesen Kontrast mache ich auch absichtlich auf, um noch erkennen zu können, was es sonst noch erstrebenswertes gibt, wofür es sich lohnt, zu kämpfen und was es zu schützen gäbe.

      Ich hätte Angst, das wir solche Fluchtpunkte aus den Augen verlören, wenn wir keine Kontraste aufbauten.

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