16. Mai 2014

Zuflucht zu den inneren Wäldern

Rückzug in die Einsamkeit als Form des Widerstandes


Cottage in the woods
Sibirien: Cottage in the Woods (Bild von Igor via Flickr, Lizenz: CC)

Der moderne Kapitalismus ist ein enorm anpassungsfähiges Untier. Im Survival of the Fittest ist er der Gewinner unter den Staatsformen. Jede noch so subversive Aktion wird dankbar von ihm aufgenommen. Gestärkt geht der Kapitalismus aus allen Konfrontationen mit seinen Gegnern hervor, er liebt seine Gegner und macht sie zu Geld. Punkmusik und Banksy verkaufen sich prächtig. Der Staat lacht mit seinen Kabarettisten, wo andere Staatsformen sie wegschließen. Und je heruntergekommener ein Stadtbezirk, desto schöner seine Gentrifizierung. Man fragt sich, ob dieses amöbenartige Einverleiben alles Widerstandes eine Grenze findet. Kann man überhaupt etwas subversives tun? Gibt es ein richtiges Leben in einer falschen Welt? In Sylvain Tessons Buch In den Wäldern Sibiriens fand ich dazu folgende Stelle:

"In der Stadt bezahlen der Liberale, der Linke, der Revolutionär wie der Großbürger ihr Brot, ihr Benzin und ihre Steuern. Der Einsiedler dagegen bittet den Staat um nichts und gibt ihm nichts. Er vergräbt sich in den Wäldern und entnimmt ihnen, was er braucht. Sein Rückzug stellt für die Regierung einen Gewinnausfall dar. Zum Gewinnausfall zu werden, sollten die Revolutionäre sich zum Ziel setzen. Eine Mahlzeit aus gebratenem Fisch und im Wald gepflückten Blaubeeren ist staatsfeindlicher, als eine mit schwarzen Fahnen gespickte Demonstration. Diejenigen, die die Zitadelle sprengen wollen, brauchen die Zitadelle. Sie sind gegen den Staat in dem Sinne, dass sie sich gegen ihn lehnen. Walt Whitman: »Aber in Wahrheit bin ich weder für noch gegen Institutionen (Was überhaupt habe ich mit ihnen gemein? oder was mit ihrer Zerstörung?)« [...]

Rückzug ist Revolte. In eine Hütte zu ziehen bedeutet, von den Kontrollschirmen zu verschwinden. Der Einsiedler löscht sich. Er sendet keine digitalen Spuren mehr, keine Telefonsignale, keine Bankkartenimpulse. Er entledigt sich jeder Identität. Er praktiziert ein umgekehrtes Hacking, er tritt aus dem großen Spiel aus. Es ist im Übrigen keineswegs notwendig, dafür in den Wald zu gehen. Der revolutionäre Asketismus wird auch im urbanen Kontext geübt. Die Konsumgesellschaft bietet die Wahl, danach zu handeln. Etwas Disziplin genügt. In der Welt des Überflusses steht es den einen frei, als Fettkloß zu leben, den anderen aber, Mönch zu spielen und ihr Dasein abgemagert im Gemurmel der Bücher zu führen. Letztere nehmen Zuflucht zu den inneren Wäldern, ohne ihre Wohnung zu verlassen. "

Nun kann eben wirklich nicht jeder in eine Hütte am Ural ziehen. Und außerdem wollen das auch nur die wenigsten. Warum? Nun: Ich empfehle das Buch von Tesson zu lesen, dann kriegt man von ganz allein kalte Füße. Aber wir haben eben doch die Wahl: Wenn es nicht die Wälder der Wildnis sind, in die wir uns zurückziehen können, dann wenigstens die inneren Wälder, die wir oft aber auch erst wieder entdecken müssen (wo sie nicht schon abgeholzt sind).

Ich traf Sylvain Tesson in Leipzig im Institut Français im Rahmen der diesjährigen Buchmesse. Tesson ist ein sehr ruhiger, witziger Mensch, sehr politisch interessiert und trotzdem ein Naturmensch, der auch die deutsche Philosophie - immer mit einer gewissen ironischen Distanz - liebt: "Schopenhauer in Sibirien hat noch einmal eine ganz andere Brutalität." Wer diesen Mix - Humor, Politik, Literatur, Natur und Philosophie - interessant findet, dem lege ich ganz dringend das Buch In den Wäldern Sibiriens: Tagebuch aus der Einsamkeit ans Herz. Tesson steht der nordamerikanischen Tradition des Nature Writings in absolut nichts nach. Für mich ist er meine literarische Entdeckung des Jahres.



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9 Kommentare:

  1. Das liest sich tatsächlich nach mehr. Kommt auf meine Wunschliste ;-)

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    1. Gut :) Nur nicht zu lange warten mit dem Lesen! Manches muss man lesen, wenn man sich selbst noch damit identifizieren kann.

      Bei Wunschlisten muss man aufpassen, dass sie nicht zu Friedhöfen unserer Wünsche werden.

      Geht eigentlich noch irgend jemand in Bibliotheken? In meiner Jugend (es gab nich kein Internet) waren Bibliotheken für uns das Fenster in die Welt.

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  2. Ich frage mich seit geraumer Zeit, um es einem damit geholfen ist, in die Einsamkeit zu gehen. Ist es nicht so, dass da draußen der Sturm des alles auffressenden Kapitalismus am Ende auch noch den Einsamsten erreichen und ihn eben nicht in Ruhe lassen wird?
    Wenn ich mir anschaue, wie die Herrschenden auf ihre Unter-Tanen schauen, was sie planen und wie sie entsprechend handlen, so will mir scheinen, dass ein Rückzug nicht wirklich auf Dauer nicht nachhaltig sein kann. Aber ein Wirken am Neuen Leben, in neuen Strukturen, das könnte helfen, am Ende in andere Lebenskonzepte weltweit zu kommen, den Kapitalismus ein für alle mal entlarvt zu begraben:
    Endgame – Der Wettlauf um die Weltherrschaft …

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    1. Ja, ich verstehe beide Seiten! Manchmal bin ich etwas hoffnungslos, wenn ich an die Milliarden Menschen denke, die unserer westlichen Konsumgesellschaft gerade erst anfangen nachzueifern. Dann denke ich, dass sich selbst in Sicherheit zu bringen, das einzige ist, das man noch tun kann: Sich selbst rausnehmen aus dem Irrsinn. Aber Tesson gibt ja auch für die andere Seite eine Lösung:

      "Es ist im Übrigen keineswegs notwendig, dafür in den Wald zu gehen. Der revolutionäre Asketismus wird auch im urbanen Kontext geübt. Die Konsumgesellschaft bietet die Wahl, danach zu handeln. Etwas Disziplin genügt. In der Welt des Überflusses steht es den einen frei, als Fettkloß zu leben, den anderen aber, Mönch zu spielen und ihr Dasein abgemagert im Gemurmel der Bücher zu führen. Letztere nehmen Zuflucht zu den inneren Wäldern, ohne ihre Wohnung zu verlassen."

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  3. Danke für den Buchtipp, werde ich mir anschauen.
    Wer an dem Thema interessiert ist dem kann ich auch noch diese beiden Bücher empfehlen:
    - Wo Wölfe heulen: Zehn Jahre in der Wildnis des Yukon - Helmut Wirfler
    - Blockhüttentagebuch - Rainer Höh

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    1. Danke für diese Tipps! Ich liebe diese Form der Literatur Ich habe auch noch einen Tipp: "Ein Winter am Indian Creek: Allein in der Wildnis Montanas" von Pete Fromm.

      Es beginnt mit Fromm als junger Student, der nicht weiß, was er machen soll. Immerhin studiert er Biologie, aber auch dass ist völlig anders, als er es sich vorgestellt hatte. Denn im Studium geht es um Statistik, Chemie und lauter solch unromantisches Zeug. Fromm indes liest lieber Jim Beckworth oder Lord Grizzly von Hugh Glass (ein Mann wird beinahe von einem Grizzly getötet und kriecht von Maden zerfressen zurück in die Zivilisation). Er liest Jim Bridger, Liver Eating Johnson, Jedediah Smith, John Colter und A.B. Guthries The Big Sky. Trunken von Wildness-Romantik bis unter die Hutschnur, zögert er nicht, einen Job über den Winter in den Bergen der Selway-Bitterroot Wildnis in Idaho anzunehmen: In einem Zelt ausharrend die Laich von Lachsen beschützen.

      Pete Fromm schildert nicht nur die Natur, den Winter, die Tiere und Überlebensprozesse. Es ist fast eine Art Entwicklungsroman, denn Pete reift von einem unüberlegt ausbrechenden und gelangweilten Studenten zu einem Kenner und Liebhaber der Natur, fast zu einem Eigenbrödler. Die Erlebnisse im Bitter Root Valey kann er mit niemandem (außer dem Leser) teilen, denn er war allein. Niemand sagt zu ihm "Weißt du noch damals?" Ich glaube, dass lässt ihn am Ende sehr ernst und etwas verzaubert wirken. Es ist nicht unbedingt Literatur, aber ein ganz besonders schönes Tagebuch, um dessen zugrundeliegenden Erlebnisse man den Autor nur beneiden kann.

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    2. Das hört sich auf gut an, kommt auch auf meine Liste ;-)
      Ich entdecke mich in Deiner Beschreibung von Pete Fromm zum Teil wieder. Die Möglichkeit des äußeren und inneren Rückzugs ist für mich ganz wichtig im Leben, besonders dann wenn man das Gefühl hat der Alltag, die Mitmenschen und die Hektik fressen einen auf.

      Fabian (aka Alexander Supertramp)

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  4. Danke für den Buchtipp. Ich hab's bestellt.

    Aussteigen - das ist ja nun nichts neues, das war ja für manche auch das Ergebnis der 68er Bewegung: Wenn man nicht mitmachen will beim System, muss man seine Kartoffeln selbst anpflanzen. Allein in eine Hütte zu ziehen ist natürlich noch radikaler. Denn am Ende und auf längere Sicht braucht der Mensch doch andere Menschen, um nicht durchzudrehen.

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  5. Sich dem Konsumwahn zu widersetzen braucht - wie oben beschrieben - kein Hütte in der Wildnis. Das braucht nur ein Erkennen, wie wir von den Mächtigen des Handels manipuliert werden und sich konsequent zu widersetzen.

    Widerstand ist zweckmäßig - der Titel für meine Blog ist nicht zufällig gewählt, denn genau darum geht es mir.

    In die Wälder zu gehen und gänzlich aus dem System auszusteigen ist einfach, sich aber innerhalb des Systems zu widersetzen, das erfordert Mut und Entschlossenheit und eine ganze Menge Widerstandsgeist - und das täglich.

    lg
    Maria

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