31. Mai 2014

Dienst nach Vorschrift und Leben nach dem Herzen

Ein paar Gedanken aus dem Urlaub -

für die man aber nicht extra Urlaub nehmen muss


"Zwischen Verlangen und Bedauern gibt es einen Punkt, der Gegenwart heißt." 
Sylvain Tesson, In den Wäldern Sibiriens (S. 162)

Burnout
Burnout (Bild von Jan-Joost Verhoef via Flickr CC)

Ich gähne, gähne und gähne. Wieder, wieder und immer wieder. Es ist der zweite Tag meines Urlaubs. Warum wir gähnen, ist nicht geklärt. Es gibt zahllose Theorien von Sauerstoffmangel über Drohgebärde bis hin zur Gehirnkühlung. In einem sind sich alle Theorien einig: Das Gähnen zeigt ein Umschalten von einem Zustand in einen anderen an. Von wach zu müde (oder umgekehrt), vom Interesse zur Langeweile, vom Stress zur Entspannung (oder umgekehrt). Heute, am vierten Tag meines Urlaubs ist das exzessive Gähnen verschwunden und die Gedanken an die Arbeit werden immer seltener und verblassen emotional. Die Themen und Zustände, die mich in den letzten Wochen noch gestresst haben, sind zwar immer noch in dieser Welt und ich werde auch zu ihnen zurückkehren, aber sie haben weniger bis kaum noch irgend eine Macht über mich. Statt dessen reift eine Erkenntnis...

25. Mai 2014

Unsere Heiterkeit kennt kein Übermaß

Bubble Joy
Alles, was Lust macht, ist gut (Bubble Joy von Davide Gabino via Flickr CC)

Gut ist, was Lust macht

Es gibt ganz fundamentale Gegensätze in unserem Leben: Spaß/Horror, Gut/Schlecht, Lust/Unlust usw. Wir sind sozusagen gespalten. Warum ist das so? Vom Menschen sagt Alexander Kluge in Die Lebensbahn des Zwerchfells: Sein Kopf, das Herz, die Atmung ziehen nach oben, zum Höheren. Das Niedere - die Verdauungsorgane, die Geschlechtsorgane, die Beine - verbindet ihn mit der natürlichen Welt. Und was liegt dazwischen? "Weder auf die Kommandos von oben noch auf die von unten wirklich hörend, ein starker Muskel: das Zwerchfell..."¹ Und in der Tat scheint auch der aufs Zwerchfell zielende Humor die Entladung der Spannungen zwischen Gegensätzen zu ermöglichen. Im Interview in der Epilog, sagt Alexander Kluge:

Jedes Baby will die Kugel, die ihm vorgeführt wird, greifen. Wir wollen zur Wirklichkeit hin, und wir wollen, wenn uns Wirklichkeit schädigt und Angst macht, von ihr weg. Diese Gefühle können Sie nicht trennen. Das ist der Antagonismus des Gefühls. Das ist eine Revolte der menschlichen Empfindung gegen die Wirklichkeit. Hier liegt die Quelle des Witzes, das ist aber gleichzeitig auch sehr ernst.²

Dieser grundlegende Antagonismus ist in der Philosophie vielfach beschrieben. Baruch de Spinoza beschrieb schon im 17. Jahrhundert sehr fern von jeder Moralisierung mit Lust und Unlust das Grundprinzip der Lebenserhaltung: Wir streben zur Lust, die uns zur Selbsterhaltung führt und weg von der Unlust, die eine verringerte Selbsterhaltungsfähigkeit anzeigt. Als Beispiel der Hunger: Er bereitet uns Unlust, wir werden sogar launisch und aggressiv, wenn er andauert. Essen und Trinken jedoch bereiten uns Lust und dienen der Selbsterhaltung. Über erotische Triebe muss man gar nicht reden, denn sie sorgen über die Selbsterhaltung hinaus für die Arterhaltung. Alles, was Lust macht, ist gut.

Erkenntnis ist lustvoll

Das Zusammendenken von Körper und Geist (oder Leib und Seele) als zwei Aspekte eines Wesens macht neben dem Verzicht auf Moralisierung Spinoza so modern. Er wollte "geometrisch über Unfreiheit und Freiheit, das gelingende und misslingende Leben, über Schmerz, Trübsal, Lust und Liebe nachdenken", so Michael Hampe in Spinoza und die Lebenslust im neuen Philosophie Magazin. Das heißt, anstatt über das menschliche Verhalten moralisch zu urteilen, will er es nach den Gesetzen der Natur wissenschaftlich untersuchen. Nach diesem aufklärerischen Verständnis ist Lust gut, denn sie hilft uns bei der Selbsterhaltung als grundlegendes Streben jedes natürlichen Wesens.

Doch um uns dem auszusetzen, was für uns gut ist, müssen wir wissen, was für Individuen wir sind. Wir müssen wissen, was in der Welt unser Tätigkeitsvermögen steigert. Selbsterkenntnis und Welterkenntnis können unsere Lust steigern. Überhaupt sind wir, wenn wir erkennen, tätig, und wenn wir dabei Neues herausbekommen, steigern wir unsere Selbsterhaltungsfähigkeiten und empfinden Lust.*

Spinoza ist kein reiner Hedonist: Auch Lust kennt ein Übermaß, besonders dann, wenn wir sie isoliert auf bestimmte körperliche Regionen oder Zustände beschränken. Die Grenze von Lust zu Sucht und damit zu Unlust ist fließend. Bei einem Lusterleben, das den Exzess zur Normalität erhebt und uns in die Sucht und Unlust treibt, bleibt die Erkenntnis dessen auf der Strecke, was dem Triumph der Lust über die Unlust dauerhaft dient.

Die Heiterkeit (hilaritas), die eine Form der Lust ist, hat jedoch niemals ein Übermaß, so Spinoza. Denn in der Heiterkeit werden alle Teile des Körpers in ihrer Fähigkeit, tätig zu sein, gesteigert. [...] Es ist die Heiterkeit und nicht die erotische Ekstase, die die absolute Lust Spinozas darstellt. Sie ist immer gut, birgt kein Suchtpotenzial. Es mag sein, dass die Intensitäten der fokussierten Lust oder Unlust, eines organisch fixierbaren Hochgenusses oder Schmerzes viel größer sind als jede Heiterkeit und jede Melancholie. Doch wenn wir uns auf das konzentrieren, was unser Wesen ausmacht: unsere Fähigkeit, uns als Individuen zu erhalten, dann sind diese den Gesamtzustand betreffenden Lüste und Unlüste die relevanten Zustände.³

Was mir hier auffällt ist auch noch eine andere Modernität: Die frühe Vorwegnahme unserer heutigen Obsession auf das individuelle, das Ich, das es gegen alles andere zu erhalten gelte. Aber sicher wäre es ein Missverständnis, wenn wir Spinozas Selbsterhaltung als Egoismus lesen. Denn auch hier greift die Erkenntnis der großen Zusammenhänge als Voraussetzung zu Lust und Heiterkeit: Ohne Du kein Ich, ohne Wir kein Individuum.

Liebe stellt sich da ein, wo die Ursache eines Lustzustandes betrachtet wird. Wenn wir uns selbst und die Welt richtig erkennen, so bereitet das Lust. Wenn wir den Zusammenhang zwischen uns und der Welt erkennen, so bereitet das noch mehr Lust.

[...]

Das glückliche Leben ist lustvoll, weil es von der Liebe zu den unpersönlichen Strukturen der Natur bestimmt ist.³

Was ist nun mit dem Zwerchfell? Ist es die Grenze zwischen Mensch und Tier? Dieser Muskel, den wir benötigen, um aufrecht zu gehen und der auf der anderen Seite unkontrollierbaren Spasmen ausgeliefert ist, wenn wir gekitzelt oder über alle Maßen belustigt werden. Der Mensch - so Helmut Plessner4 - kommt im Lachen an seine Grenzen, er verliert die Kontrolle und damit das, was ihn als Menschen auszeichnet. Wie ein Tier ist er im Lachen seinen Affekten ausgeliefert. Die Heiterkeit hingegen ist kein Lachen, sondern ein auf Dauer gestelltes Arrangieren und Verstehen des Menschen in seiner Umwelt. Kontrollverlust wie Lachen, gelegentliche Exzesse des Genusses oder die erotische Ekstase gehören aber dazu. Denken wir nächstens mal dran: Gut ist, was uns Lust macht.



1) Alexander Kluge: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten
2) Die Epilog, Heft 04: "Ich beabsichtige das gar nicht."
3) Michael Hampe in Spinoza und die Lebenslust im Philosophie Magazin Nr. 4 / 2014 | Das Ich-Syndrom
4) Die Epilog, Heft 04: Der Sinn des Lachens — Helmuth Plessner entdeckt den Ursprung des Menschen von Maybrit Hillnhagen

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16. Mai 2014

Zuflucht zu den inneren Wäldern

Rückzug in die Einsamkeit als Form des Widerstandes


Cottage in the woods
Sibirien: Cottage in the Woods (Bild von Igor via Flickr, Lizenz: CC)

Der moderne Kapitalismus ist ein enorm anpassungsfähiges Untier. Im Survival of the Fittest ist er der Gewinner unter den Staatsformen. Jede noch so subversive Aktion wird dankbar von ihm aufgenommen. Gestärkt geht der Kapitalismus aus allen Konfrontationen mit seinen Gegnern hervor, er liebt seine Gegner und macht sie zu Geld. Punkmusik und Banksy verkaufen sich prächtig. Der Staat lacht mit seinen Kabarettisten, wo andere Staatsformen sie wegschließen. Und je heruntergekommener ein Stadtbezirk, desto schöner seine Gentrifizierung. Man fragt sich, ob dieses amöbenartige Einverleiben alles Widerstandes eine Grenze findet. Kann man überhaupt etwas subversives tun? Gibt es ein richtiges Leben in einer falschen Welt? In Sylvain Tessons Buch In den Wäldern Sibiriens fand ich dazu folgende Stelle:

"In der Stadt bezahlen der Liberale, der Linke, der Revolutionär wie der Großbürger ihr Brot, ihr Benzin und ihre Steuern. Der Einsiedler dagegen bittet den Staat um nichts und gibt ihm nichts. Er vergräbt sich in den Wäldern und entnimmt ihnen, was er braucht. Sein Rückzug stellt für die Regierung einen Gewinnausfall dar. Zum Gewinnausfall zu werden, sollten die Revolutionäre sich zum Ziel setzen. Eine Mahlzeit aus gebratenem Fisch und im Wald gepflückten Blaubeeren ist staatsfeindlicher, als eine mit schwarzen Fahnen gespickte Demonstration. Diejenigen, die die Zitadelle sprengen wollen, brauchen die Zitadelle. Sie sind gegen den Staat in dem Sinne, dass sie sich gegen ihn lehnen. Walt Whitman: »Aber in Wahrheit bin ich weder für noch gegen Institutionen (Was überhaupt habe ich mit ihnen gemein? oder was mit ihrer Zerstörung?)« [...]

Rückzug ist Revolte. In eine Hütte zu ziehen bedeutet, von den Kontrollschirmen zu verschwinden. Der Einsiedler löscht sich. Er sendet keine digitalen Spuren mehr, keine Telefonsignale, keine Bankkartenimpulse. Er entledigt sich jeder Identität. Er praktiziert ein umgekehrtes Hacking, er tritt aus dem großen Spiel aus. Es ist im Übrigen keineswegs notwendig, dafür in den Wald zu gehen. Der revolutionäre Asketismus wird auch im urbanen Kontext geübt. Die Konsumgesellschaft bietet die Wahl, danach zu handeln. Etwas Disziplin genügt. In der Welt des Überflusses steht es den einen frei, als Fettkloß zu leben, den anderen aber, Mönch zu spielen und ihr Dasein abgemagert im Gemurmel der Bücher zu führen. Letztere nehmen Zuflucht zu den inneren Wäldern, ohne ihre Wohnung zu verlassen. "

Nun kann eben wirklich nicht jeder in eine Hütte am Ural ziehen. Und außerdem wollen das auch nur die wenigsten. Warum? Nun: Ich empfehle das Buch von Tesson zu lesen, dann kriegt man von ganz allein kalte Füße. Aber wir haben eben doch die Wahl: Wenn es nicht die Wälder der Wildnis sind, in die wir uns zurückziehen können, dann wenigstens die inneren Wälder, die wir oft aber auch erst wieder entdecken müssen (wo sie nicht schon abgeholzt sind).

Ich traf Sylvain Tesson in Leipzig im Institut Français im Rahmen der diesjährigen Buchmesse. Tesson ist ein sehr ruhiger, witziger Mensch, sehr politisch interessiert und trotzdem ein Naturmensch, der auch die deutsche Philosophie - immer mit einer gewissen ironischen Distanz - liebt: "Schopenhauer in Sibirien hat noch einmal eine ganz andere Brutalität." Wer diesen Mix - Humor, Politik, Literatur, Natur und Philosophie - interessant findet, dem lege ich ganz dringend das Buch In den Wäldern Sibiriens: Tagebuch aus der Einsamkeit ans Herz. Tesson steht der nordamerikanischen Tradition des Nature Writings in absolut nichts nach. Für mich ist er meine literarische Entdeckung des Jahres.



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12. Mai 2014

Über das Glücklichsein

Der Antrieb der Menschen ist Glücklichsein, sagt Elias Fischer. Jeder Mensch wolle im Prinzip einfach nur glücklich sein und so könne man vielleicht all seine Handlungen darauf zurückführen, dass ein jeder versucht, sein Leid zu verringern und sein Glück zu erhöhen. Je nach Lebenserfahrung und Bewusstseinszustand hat jeder von uns die unterschiedlichsten Ansichten darüber, was ihn glücklich macht. In diesem Artikel möchte Elias Fischer einige Dinge vorstellen, die ihn in seinem Leben vom wahren Glück abgehalten hatten.

Child playing
Es gab nur den Moment, dich und dein Sein (Alan Pantoja via Flickr, CC)

Drei Hürden auf dem Weg zum wahren Glück

Zu Beginn möchte ich erst einmal erklären, was für mich Glück und wahres Glück sind. Ein inneres Hochgefühl können wir nämlich kurzfristig erzeugen, indem wir uns schöne Dinge kaufen, essen oder irgendetwas anderes konsumieren. Generell ist beim Konsumieren das Glück immer nur von kurzer Dauer. Es hat nichts mit Beständigkeit und innerer Erfüllung zu tun.

4. Mai 2014

Lob dem Eros

Gott ist Liebe, Sex ist Sünde 


Ein prägendes Thema der abendländischen Philosophie, ihre große immer noch entzündete Wunde vielleicht, ist der Leib-Seele-Dualismus. Wenn man an Leib und Seele denkt, dann drängt sich der Komplex Liebe, Sex, Eros geradezu auf. Man wundert sich, dass es da nicht zu großen philosophischen Auseinandersetzungen gekommen ist. Daniel Briegleb, Musiker und Autor in Hamburg, hat dazu im Passagen Verlag seinen Essay Lust an Liebe veröffentlicht. Im folgenden Text stellt er uns einige Gedanken aus seinem Essay vor...

Distanz erst ermöglicht uns wieder nahe zu kommen (lp0005 von Gabriele Chiapparini, CC Lizenz)

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Zweimal pro Woche Geschlechtsverkehr mit Ejakulation ist gesund, sagt mein Urologe. Wenn ihr euch auf diese Weise stimuliert, werdet ihr multiple Orgasmen haben, sagt das Ratgeberbuch. Das Gehirn ist das eigentliche Sexualorgan, Sex findet im Kopf statt, steht in der Zeitung. Wecken Sie ihre Fantasie, lesen Sie ein erotisch ansprechendes Buch, dann werden Sie wieder auf den Geschmack kommen, sagt die Sexualberatung im Internet.

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